Heft 
(1.1.2023) 115
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126 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Vermessungen des ›Unvollendeten‹. Experimente zur quantitativ-genetischen Narratologie anhand von Fontanes Fragmenten Henny Sluyter-Gäthje, Daniil Skorinkin, Peer Trilcke 1. Einleitung Zu den Topoi der Produktionsästhetik Theodor Fontanes gehört die Selbst­aussage aus einem Brief an Wilhelm Hertz vom 11. Dezember 1885,»Drei­viertel« seiner»ganzen literarischen Tätigkeit« seien»überhaupt corrigieren und feilen« 1 von»grenzenlose[r] Düftelei« spricht Fontane an anderer Stel­le. 2 In der Forschung werden dabei grob mehrere Phasen der Textentste­hung unterschieden: Was mit der»Stoff- und Materialsammlung« beginnt, geht über in eine»Dispositions- und Entwurfsphase«, auf die eine erste »Niederschrift« und schließlich mehrere»Revisionsphasen« folgen. 3 In der Einleitung zur Fragmente- Edition hat Christine Hehle diese Entstehungs­stadien in Begriffen der klassischen Rhetorik beschrieben: angefangen bei der inventio über die dispositio bis zur elocutio. 4 Die Zeugnisse aus dem Entstehungsprozess unterschiedlichster Schreib­projekte, wie sie in der Fragmente-Edition in bisher nicht gegebener Voll­ständigkeit vorliegen, sind in Hinblick auf diese Phasenuntergliederungen sowohl untereinander heterogen als auch in sich(etwa, weil in einem ›Frag­ment‹ weitgehend ausformulierte Passagen neben Materialsammlungen und kursorischen Kapiteldispositionen stehen). Allein in der ›Revisionspha­se‹ befindet sich, so scheint uns, keiner der Texte in der Fragmente-Edition. Fragt man an diese Beobachtung anschließend danach, was diese ›Frag­mente‹ 5 eint, so liegt eine zweigliedrige Hypothese nahe: Zum einen könnte den Fragmenten die Abwesenheit jenes globalen Ge­staltungsimpulses der ›grenzenlosen Düftelei‹ gemein sein, der zu ihrer ›Vollendung‹ noch fehlt. 6 Die Fragmente wären in diesem Sinne durch einen Mangel gekennzeichnet, oder anders gesagt: Die ›vollendeten‹, besser: pub­lizierten Werke weisen einen charakteristischen Überschuss gegenüber den Fragmenten auf. Man könnte hier von Phänomenen des Vollendeten spre­chen, die in den Fragmenten fehlen.