126 Fontane Blätter 115 Dossier: Fontanes Fragmente. Fortsetzung Vermessungen des ›Unvollendeten‹. Experimente zur quantitativ-genetischen Narratologie anhand von Fontanes Fragmenten Henny Sluyter-Gäthje, Daniil Skorinkin, Peer Trilcke 1. Einleitung Zu den Topoi der Produktionsästhetik Theodor Fontanes gehört die Selbstaussage aus einem Brief an Wilhelm Hertz vom 11. Dezember 1885,»Dreiviertel« seiner»ganzen literarischen Tätigkeit« seien»überhaupt corrigieren und feilen« 1 – von»grenzenlose[r] Düftelei« spricht Fontane an anderer Stelle. 2 In der Forschung werden dabei grob mehrere Phasen der Textentstehung unterschieden: Was mit der»Stoff- und Materialsammlung« beginnt, geht über in eine»Dispositions- und Entwurfsphase«, auf die eine erste »Niederschrift« und schließlich mehrere»Revisionsphasen« folgen. 3 In der Einleitung zur Fragmente- Edition hat Christine Hehle diese Entstehungsstadien in Begriffen der klassischen Rhetorik beschrieben: angefangen bei der inventio über die dispositio bis zur elocutio. 4 Die Zeugnisse aus dem Entstehungsprozess unterschiedlichster Schreibprojekte, wie sie in der Fragmente-Edition in bisher nicht gegebener Vollständigkeit vorliegen, sind in Hinblick auf diese Phasenuntergliederungen sowohl untereinander heterogen als auch in sich(etwa, weil in einem ›Fragment‹ weitgehend ausformulierte Passagen neben Materialsammlungen und kursorischen Kapiteldispositionen stehen). Allein in der ›Revisionsphase‹ befindet sich, so scheint uns, keiner der Texte in der Fragmente-Edition. Fragt man – an diese Beobachtung anschließend – danach, was diese ›Fragmente‹ 5 eint, so liegt eine zweigliedrige Hypothese nahe: Zum einen könnte den Fragmenten die Abwesenheit jenes globalen Gestaltungsimpulses der ›grenzenlosen Düftelei‹ gemein sein, der zu ihrer ›Vollendung‹ noch fehlt. 6 Die Fragmente wären in diesem Sinne durch einen Mangel gekennzeichnet, oder anders gesagt: Die ›vollendeten‹, besser: publizierten Werke weisen einen charakteristischen Überschuss gegenüber den Fragmenten auf. Man könnte hier von Phänomenen des Vollendeten sprechen, die in den Fragmenten fehlen.
Heft
(1.1.2023) 115
Seite
126
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