36 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Kriegsgesellschaft. Fontane, Raabe und der Bellizismus des 19. Jahrhunderts Martin Schneider 1. Einleitung: Krieg und Realismus Die letzte Photographie Theodor Fontanes zeigt den Schriftsteller am Schreibtisch seines Berliner Arbeitszimmers, die Feder in der Hand(Abb. 1). Weniger bekannt als das Bild selbst ist die Tatsache, dass am Kopf des Tisches der Abguss einer anderen Hand zu sehen ist, die ebenfalls eine Schreibfeder hält. Es ist diejenige Helmuth von Moltkes, preußischer Generalfeldmarschall und militärischer Architekt der so genannten ›Einigungskriege‹. 1 Damit verweist die kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Photographie auf eine der wesentlichen sozialhistorischen Bedingungen realistischen Schreibens: die Gründung des deutschen Reiches durch Krieg, die Militarisierung der Gesellschaft und die sie begleitenden bellizistischen Diskurse, die nicht zuletzt in den Reden und Schriften Moltkes ihren Ausdruck fanden. Obwohl die politischen und sozialhistorischen Umbrüche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne die ›Einigungskriege‹ der Jahre 1864 bis 1871 nicht zu verstehen sind, zeigt die Literaturwissenschaft nur in wenigen Fällen Interesse am Konnex von Krieg und Realismus. Die bekanntesten sind Theodor Fontane und Wilhelm Raabe, in deren Werken Krieg und Militarismus eine herausgehobene Rolle spielen. Die Fontane Blätter haben erst 2021 Fontanes Krieg gegen Frankreich ein ganzes Dossier gewidmet und seitdem die Diskussion zum Thema fortgesetzt. Sie knüpfen damit an die grundlegenden Arbeiten Gerhard Friedrichs und John Osbornes in den späten 1980er- und 1990er-Jahren an. 2 Der vorliegende Beitrag möchte die Reihe dieser Untersuchungen fortsetzen. Er zielt jedoch nicht auf Fontanes historische und journalistische Arbeiten zu den ›Einigungskriegen‹, sondern auf eine werkübergreifende Untersuchung von Kriegsdarstellungen in seinen Erzähltexten. Hier liegen bislang fast nur Studien zu Vor dem Sturm vor. Zum Vergleich soll das Werk Wilhelm Raabes herangezogen werden, in dessen Fall die Forschung zwar seit den 1990ern in Aufsätzen
Heft
(1.1.2024) 118
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36
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