Heft 
(1.1.2024) 118
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Innstettens Angst vor dem Chinesen Siemsen 77 Innstettens Angst vor dem Chinesen 1 Peter Siemsen »Wer hat eigentlich Mitleid mit Innstetten in Fontanes Effi Briest?«, so die titelgebende Frage eines Aufsatzes von Dieter Krohn. 2 Die Frage und ihre Formulierung zeigen an, dass hier ein Thema in den Blick gerückt wird, das offenbar immer schon auf der Hand lag, aber bislang trotzdem oder sogar deshalb übergangen wurde und damit für die Effi Briest-Diskussion so et­was wie der Elefant im Raum ist. Krohn gibt dann aber keine Antwort auf seine Frage, sondern bereitet eine solche erst vor, indem er Innstetten am Beispiel der Duellentscheidung, in Absetzung von anderen Deutungen, 3 in­tensive Gefühlsgründe zubilligt. Diese Gefühle Verletztheit durch Effis Be­trug 4 , Bedürfnis nach Bestrafung und Rache 5 , Angst»vor Lächerlichkeit und der Verachtung der Gesellschaft« 6 machten Innstetten»vielleicht nicht sympathischer, aber im wahrsten Sinne des Wortes ein wenig menschli­cher«. 7 Dieses Menschliche oder auch Allzumenschliche an Innstetten reicht wohl noch nicht für Mitleid, weshalb Krohn der Beantwortung seiner Frage ausweicht. Dennoch unterläuft auch schon die unbeantwortete Frage einen in der Deutungsgeschichte gängigen Topos, wonach Innstetten ein gefühls­kalter Karrierist und Manipulator ist, der Effi verängstigen, einschüchtern, disziplinieren und kontrollieren will. Als Instrument seiner»schon fast an Grausamkeit« 8 (EB, S. 157) grenzenden Absichten dient Innstetten in dieser Sicht der Chinese. Der spielt in Effi Briest schon rein quantitativ eine zentrale Rolle. Fontane bringt ihn insgesamt 31-mal, je nach Zählung auch 34-mal, ins Spiel. 9 Statis­tisch heißt das bei insgesamt 345 Seiten in der Großen Brandenburger Aus­gabe(GBA), dass der Chinese alle 10–11 Seiten vorkommt. Nimmt man hin­zu, dass er im Wesentlichen nur in 18 der 36 Kapitel auftaucht 10 (Kapitel 6–24), erhöht sich die Frequenz für diese knapp 200 Seiten auf jede siebte Seite. Der Präzision solcher Statistik steht eine Unbestimmtheit in der Be­deutung gegenüber. Christine Hehle 11 und Klaus Müller-Salget 12 betonen, dass die Figur des Chinesen auf schwebende Uneindeutigkeit angelegt sei, weil dessen im Roman verstreut erzählte Geschichte»hauptsächlich aus