Heft 
(1894) 81
Seite
219
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Die Reform der preußischen Agrarverfassung und die Berliner Conferenz. 2!9

VIII.

Fasse ich jetzt noch den Gesammteindruck zusammen, den die Enquete aus mich gemacht hat, und suche ich zum Schlüsse meine eigene Ansicht in Bezug auf die einzelnen Gegenstände der Enquete zu begründen und auszuführen, so muß zunächst constatirt werden, daß in den Bestrebungen, die zur Agrar- conferenz führten, ein Zug hervortrat, der dem wirthschaftlichen Leben unserer Zeit überhaupt eigenthümlich ist: es ist das der Wunsch nach Errichtung einer neuen positiven Ordnung auch für die Grundbesitzer und Landwirthe, wie ähnliche Versuche für den Handel, namentlich aber für das Gewerbe bereits früher unternommen worden sind. Die Agrarverfassung, welche von der modernen Emanzipationsgesetzgebung geschaffen worden ist, war zu ausschließ­lich auf die Souveränetät des Individuums gegründet, als daß sie mehr als eine negative, gegen die Ordnung des aueieu«ün6 gerichtete Bedeutung hätte erlangen können. Denn schon sehr bald, auf dem Gebiete des Arrondirungs-, Versicherungs- und Creditwesens, trat das Bedürfniß nach Zusammenschluß der Einzelnen zu kleineren oder größeren Verbänden hervor. Jedoch wogt der Kampf darüber, ob dieser Zusammenschluß eine lediglich auf dem Princip der individuellen Freiwilligkeit oder des allgemeinen Zwanges beruhender sein soll, noch immer unentschieden hin und her. Und auch in den oben behan­delten Fragen trat dieser Gegensatz zu Tage. Doch wird derselbe Wohl kaum mit einem Schlage a priorff sondern nur langsam, und für die verschiedenen Gebiete in ungleichem Sinne entschieden werden. Das Experiment in der Geschichte wird auch hier die beste Lehrmeisterin sein.

Rechtfertigen aber lassen sich solche Eingriffe der Gesammtheit in die bisher freigelassene Sphäre der Einzelnen nur durch eine Collision unter den individuellen Interessen, die wieder ihrerseits eine Folge der größeren Com- plication dieser Interessen ist. Wie man den Eigentümer eines isolirt dastehenden Ritterguts oder Bauernhofes freier schalten und walten lassen kann, als den Hausbesitzer einer volkreichen Stadt, so wird auch in der heu­tigen, in den Weltbetrieb hineingestellten agrarischen Gemeinschaft der Einzelne sich manche Beschränkungen durch die Gesammtheit und für die Gesammtheit gefallen lassen müssen, die ihm unter den früheren einfachen Verhältnissen fremd geblieben waren und fremd bleiben konnten.

Ein Schritt in der oben angedeuteten Richtung liegt auch in den von der Conferenz bezüglich des Anerbenrechts befürworteten Vorschlägen, weil diese Vorschläge, in Folge längerer theoretischer Beschäftigung mit dem Gegen­stände derselben, um einen bekannten Ausdruck Auguste Comte's zu gebrauchen, den Gesetzen der socialen Statik so gut angepaßt worden sind, daß ihrer Durch­führung in der Gegenwart Wohl kaum etwas im Wege stehen dürfte, ihrer Durchführung, sofern nämlich der Grundbesitz des Erblassers noch eine wirt­schaftliche Einheit bildet, oder doch aus solchen Einheiten besteht, und sofern in der besitzenden Familie der Zusammenhang und Familiensinn noch so starb ist, daß die einzelnen Glieder bereit find, der Familie Opfer zu bringen. Zu bedauern bleibt allerdings, daß die Einführung des Anerbenrechts wahrscheinlich in einem Augenblicke vor sich gehen wird, in welchem wegen der hohen Ver-