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Theodor Fontane in Berlin.
auf die Straße stelle, das tauge nichts, oder habe doch nur Alltagswerth; das was wirklich Werth habe, das ziehe sich zurück, das berge sich iu Stille, das verstecke sich. Die lieblichste Blume, darüber könne kein Zweifel sein, sei das Veilchen, und die poetischste Frucht, darüber könne wiederum kein Zweifel sein, sei die Walderdbeere. Beide versteckten sich aber, beide ließen sich suchen, beide lebten so zu sagen incognito. Und somit lasse er das Jncognito leben, oder die Jncognitos, denn Singular oder Plural sei ihm gleichgültig.
Das oder die.
Ein volles Glas für Frau Melanie;
Die oder das,
Für Ebenezer ein volles Glas.
Und danach fing er an zu singen.
Erst zu später Stunde trennte man sich und Anastasia versprach am andern Tage zu Tisch wieder zu kommen; abermals einen Tag später aber (Rubehn war eben in die Stadt gegangen) erschien das Vrenel, um in ihrem Schweizer Deutsch und zugleich in sichtlicher Erregung den Polizeirath Reiff zu melden. Und sie beruhigte sich erst wieder, als ihre junge Herrin antwortete: „Ah, sehr willkommen. Ich lasse bitten, einzutreten".
Melanie ging dem Angemeldeten entgegen. Er war ganz unverändert: derselbe Glanz im Gesicht, derselbe schwarze Frack, dieselbe weiße Weste.
„Welche Freude Sie wieder zu sehen, lieber Reifs", sagte Melanie und wies mit der Rechten auf einen neben ihr stehenden Fauteuil. „Sie waren immer mein guter Freund, und ich denke, Sie bleiben es".
Reiff versicherte etwas von unveränderter Devotion und that Fragen über Fragen. Endlich ließ er durch Zufall oder Absicht auch den Namen Van der Straatens fallen.
Melanie blieb unbefangen und sagte nur: „Den Namen dürfen Sie nicht nennen, lieber Reiff, wenigstens jetzt nicht. Nicht als ob er mir unfreundliche Bilder weckte. Nein, o nein. Wäre das, so dürften Sie's. Aber gerade weil mir der Name nichts Unfreundliches zurückrust, weil ich nur weiß, ihm, der ihn trägt, wehe gethan zu haben, so quält und peinigt er mich. Er mahnt mich an ein Unrecht, das dadurch nicht kleiner wird, daß ich es in meinem Herzen nicht recht als Unrecht empfinde. Also nichts von ihm. Und auch nichts . . . ." Und sie schwieg und fuhr erst nach einer Weile fort: „Ich habe nun mein Glück, ein wirkliches Glück, mais 11 kaut pa^sr ponr tont st äsnx kols ponr notrs bonllsnr".
Der Polizeirath stotterte eine verlegene Zustimmung, weil er nicht recht verstanden hatte.
„Wir aber, lieber Reiff", nahm Melanie wieder das Wort, „wir müssen einen neutralen Boden finden. Und das werden wir. Das zählt ja zu den Vorzügen der großen Stadt. Es giebt immer hundert Dinge, worüber sich plaudern läßt. Und nicht blos um Worte zu machen, nein,