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Judenproblem / von I. Breuer
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Juden, und der Skandal des Dreyfusprozesses griff ihnen allen an die Seele. Wie der Judenhaß einen eifernen Reifen um die Juden des Erdkreises legt, so webt die Judenliebe ein zartes Band geheimnisvoller Sym- pathie von Herz zu Herz. Und diese Judenliebe ist genau so rätselhaft wie jener Judenhaß. Sie hat, gleich dem Judenhaß, mit der jüdischen Religion als solcher unmittel- bar nichts zu tun. Auch sie ist religiös neutral. Dreyfus hatte von der jüdischen Religion kaum eine blasse Ahnung. Aber die Tränen des auf die Teufelsinsel Verbannten brannten in den Herzen aller Juden, und die Freude über seine Erlösung haben sie alle geteilt. Nicht nur der Juden­haß, auch die Judenliebe rechnet dem Judentum als solchem jedes Verbrechen, das ein Jude begeht, mitverantwortlich selber zu und fühlt sich in ihm gedemütigt. So sonderbar es klingt: die Solidarität, die der Judenhaß den Juden ins- gesamt aufbürdet, wird von der Judenliebe ohne weiteres anerkannt und als moralisch gerechtfertigt empfunden.

Wie eine ungeheure Kuppel überwölbt die Judenliebe die unter die Nationen zerstreuten Juden und macht aus ihnen allen Glieder einer einzigen Familie. Sie übertrifft an Innigkeit bei weitem die Liebe des Deutschen zum Deut­ schen , des Franzosen zum Franzosen, des Engländers zum Engländer. Späht man nach Ähnlichkeiten aus, so kann man sie nur der Verwandtenliebe auf gleiche Stufe setzen. Es ist eine gegen außen, gegen Dritte gekehrte Liebe. Verwandte ärgern einander blau und blaß und sagen sich hundertmal die Freundschaft auf. Aber greift ein Fremder einen von ihnen an, so spüren es alle zugleich, und sie stehen füreinander wie ein Mann. Nicht aus Mitleid. Sondern aus dem ursprünglichen Gefühl der Identität heraus, aus dem unverlierbaren Bewußtsein der Einheit. Es ist sicher nicht richtig, daß etwa der Judenhaß erst die Judenliebe geboren habe. Eher umgekehrt. Hat doch die Tatsache der allenthalben emporqüellenden Judenliebe seit je dem Juden­haß die schärfsten Waffen in die Hand gegeben. Wer wollte denn auch leugnen, daß die Judenliebe vielfach dem einzelnen Juden die Wege ebnet, ihm Beziehungen verschafft, die ihm sonst unerreichbar wären, und ihn nicht selten rechtzeitig vor gänzlichem Ruin bewahrt? Die Judenliebe trägt den Juden

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