der Entwicklung der jüdischen Persönlichkeit freiesten Spielraum. Auf dem Wege des Tatgehorsams gegen den jüdischen Nationalwillen erringt sich der Jude seine Religion, seinen Gott. Die Nation ist Mittlerin zwischen ihm und Gott. Die Heteronomie des jüdischen Nationalwillens führt zur Autonomie der freien jüdischen Persönlichkeit: durchs Gesetz zur Freiheit im Gesetz.
So kommt der jüdischen Nation eine politische wie eine religiöse Bedeutung zu. Sie ist politisch ein von Gott ein- gelegter Protest gegen den Turmbauwahnsinn der Nationen, und sie iss religiös die Erzieherin ihrer Glieder zur Ganz- heit mit Gott, die Fortträgerin göttlicher Offenbarung, deren Wille den jüdischen Menschen Schritt für Schritt geleitet, Tag für Tag läutert und weckt, bis sein Ohr Sinais Donner vernimmt und Sinais Blitze seine Seele entflammen.-
XII.
Das Westjudentum.
Durch lange Jahrhunderte hat die jüdische Nation den willigen Gehorsam ihrer Glieder gefunden. Die Welt erdröhnte unter den Fußtritten der Gewalt, und der Ströme kostbaren Menschenblutes, nationaler Ruhmsucht und sozialem Klassenegoismus hingeopfert, war kein Ende. Aber die jüdische Nation barg in ihrem Herzen das von den Propheten verkündete Ideal des Zukunftsstaates, der auf Recht und Liebe gegründet ist und von Zions Höhe das Licht ver- brüdernder Gotteserkenntnis in die Nacht der Menschheit trägt. Sie haften keinen Teil am Unrecht der Nationen. Ihre Hände blieben rein von Blut. Sie war nur immer die Verfolgte und niemals Verfolgerin. Sie duldete und harrte. Aber Jahr für Jahr, wenn der Tag wiederkehrte, der ihr die Gottesnähe geraubt und sie ins Exil getrieben, glitt sie trauernd zu Boden und weinte ihr Weh in herzzerreißenden Sängen, wie sie ergreifender die Weltliteratur nicht kennt, in die entgottete Welt hinaus. In dieser Welt konnte sie, die Nation des Gottesgesetzes, nicht heimisch werden. Nach Zion und Jerusalem schweifte unaufhörlich ihr leidumflorter Blick: Wetterleuchtet es noch nicht um Morijahs Gipfel? Wann tönt der Schofar, der die Zer-
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