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Judenproblem / von I. Breuer
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VI.

Theodor Herzl.

Die zionistische Theorie, die in dem heute noch lebendigen Einheitsbewußtsein der Juden des Erdballs die seelische Ausdruckssorm ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Nation als historischer Einheit erblickt, vermag eine Reihe sonst völlig problematischer Erscheinungen befriedigend zu erklären. Sie liefert zugleich einen tauglichen Maßstab zur einheitlichen Beurteilung der Judenverhältnisse nach einem durchgreifen- den obersten Prinzip. Durch beide Leistungen weist sie, wie es scheint, ihre wissenschaftliche Brauchbarkeit und damit ihre wissenschaftliche Richtigkeit nach.

Sie erklärt zunächst die seltsame Erscheinung der religiös neutralen jüdischen Organisationen, wie sie namentlich in Deutschland in der Gestalt der Großgemeinden und der be­reits früher angeführten großen Verbände bestehen. Diese Organisationen beruhen weder auf der gemeinsamen Zu­gehörigkeit zu einer bestimmten Rasse es gibt keine be­wußten Rassehandlungen noch auf der Gleichheit der religiösen Überzeugung. Sie wurzeln lediglich in der durch die.Geschichte geschaffenen Synthese, die man eben Nation nennt. Dem spricht gar nicht entgegen, daß in Wirklichkeit die führenden Kreise der Großgemeinden sich dem Zionis­mus vollkommen ferngehalten haben und meist auch von der Theorie einer jüdischen Nation nichts wissen wollen. Sie sind ja im vorliegenden Falle Objekte, nicht Subjekte der Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Theorie kann sehr wohl noch richtig sein, selbst wenn die Gegenstände der Theorie, falls es zufällig Menschen sind, sich gegen sie mehr oder weniger temperamentvoll sträuben. Daß Juden trotz tief­greifender religiöser und sozialer Verschiedenheit sich als Juden in Verbänden zusammenfinden, und zwar durchaus nicht nur in Verbänden zur Abwehr des Antisemitismus, ist eine Folgeerscheinung ihrer historisch-nationalen Einheit selbst dann noch, wenn auch das Nationalbewußtsein sich bereits mitten in einem Zersetzungsprozeß befindet und sich bereits zu einem zwar immer noch starken, aber doch schon farblosen allgemeinen Einheitsbewußtsein verflüchtigt hat.

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