VIII.
Der Zionismus und die Religion.
Die zionistische Theorie fand das Judenproblem vor, diesesonderbare Erscheinung, daß eine ganze Reihe von seit Jahrhunderten über den Erdkreis zerstreuten Menschen eine Einheit bildet, die weder auf staatlicher noch auf sonstiger Organisation beruht. Sie erklärte diese Einheit als die geschichtliche Einheit der Nation und stellte zugleich, die Judenverhältnisse an dem neugewonnenen Maßstab messend, fest, daß im Westen die Judeneinheit sich bereits in einem Zersetzungsprozeß befinde, der für die Zukunft dieses Teiles der jüdischen Nation große Gefahren in sich berge, und daß der im Osten hausende Kern der jüdischen Nation durch Verfolgungen und Bedrückungen aller Art körperlich wie seelisch allmählich zugrunde gehen müsse, wenn nicht in absehbarer Zeit andere Lebensbedingungen geschaffen würden. So gelangte die zionistische Theorie zu der Forderung, daß der jüdischen Nation das Land ihrer nationalen Sehnsucht wiedergegeben werden müsse, wenn anders sie genesen solle.
Indem aber der Zionismus die Judeneinheit als nationale Einheit deutete, trat er in einen ihm von vornherein vollkommen bewußten Gegensatz zu jener namentlich im Westen viel verbreiteten Anschauung, wonach die Juden nur eine analytisch-begriffliche Einheit gemeinsamer religiöser Überzeugung bilden sollten. Diese Anschauung setzte ja die Juden der Idee nach den Christen völlig gleich und ließ für nationale Aspirationen irgendwelcher Art schlechterdings keinen Raum. Mit vollem Recht konnte ihr gegenüber der Zionismus darauf Hinweisen, daß gerade im Westen, wo sich ihre eigentlichen Wortführer befanden, die Gemeinsamkeit der religiösen Überzeugung unter den Judenlängst geschwunden sei, und die jüdische Religion nicht das die westlichen Juden einigende, sondern ganz im Gegenteil das sie grundsätzlich trennende Moment schon seit den Tagen der Emanzipation bilde. Offenbar sei die im Westen geborene Theorie der jüdischen Religionsgemeinschaft, die die Judeneinheit ihres nationalen Charakters völlig entkleide, nichts
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