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Judenproblem / von I. Breuer
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Auf dieses Elend die Aufmerksamkeit der politischen Machthaber zu lenken, hat der Zionismus auf seinen zahl­reichen Kongressen nicht ausgehört. Politische Erfolge waren ihm jedoch bis zum Ausbruch des Weltkrieges nicht be- sc hieden. Die Hoffnung, von der Großmut der Staats- männer wesentliche politische Zugeständnisse gewissermaßen im ersten Sturm zu erobern, diese Hoffnung, wenn sie über­haupt je bestanden, hat sich nicht verwirklicht. Staatsmänner sind nicht gewohnt, zu schenken. Sie dienen dem Nutzen und ehren die Macht.

Um so mehr mußte aber nun der Zionismus sein ganzes Streben darauf richten, gleichsam von unten anzufangen und zunächst einmal die Juden selber umfassend zu politi­sieren, um sie als organisierte Macht beim politischen Kalkül der Staatsmänner in die Wagschale werfen zu können. Auch hierin weist der Zionismus bedeutsame Ähnlichkeiten mit dem Sozialismus auf. Der Sozialismus hat ursprünglich mit einer nahen Katastrophe der kapitalistischen Gesellschafts­ordnung gerechnet und die Gegenwart fast nur wie einen flüchtigen Übergangszustand angesehen. Mehr und mehr hat er aber sein praktisches Streben vom Ziel auf den Weg zum Ziel verlegen müssen und so der Wahrheit seine Steuer ent­richtet, daß im geschichtlichen Leben der Menschen das Ziel nichts und die Bewegung alles'bedeutet.

Während aber der Sozialismus in einem unerhörten Siegeszug die Arbeitermassen aller Länder unter seine Fahnen gebracht hat, sind dem Zionismus von einer Seite Schwierigkeiten entstanden, von der er es wohl am aller­wenigsten erwarten durfte. Gerade diejenigen Teile des Judentums, die der Assimilation völlig fernstehen, die Masten des östlichen Judentums, sind in weitaus über­wiegender Zahl der zionistischen Bewegung bis zum Beginn des Weltkrieges nicht beigetreten. Ja, der Zionismus hat hie und da unter ihnen geradezu erbitterte Feindschaft ge­funden. In Westeuropa wiederum haben just die orthodoxen Kreise eine fast durchweg ablehnende Haltung eingenommen.

Diese sonderbare Erscheinung findet ihre Erklärung in dem Verhältnis des Zionismus als Theorie wie als Praxis zur jüdischen Religion.

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