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Judenproblem / von I. Breuer
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von der Geburt bis zum Grab, sie macht, daß er sich nie gänzlich verlassen fühlt, sie verleiht ihm Kraft und Mut zur Ausdauer. Sie steht ganz und gar nicht im Widerspruch mit dem bekannten jüdischen Antisemitismus. Im Gegen­teil! Regelmäßig bildet die Judenliebe überhaupt den Nährboden, auf dem sich der jüdische Antisemitismus aller­erst entwickeln kann. Hat man nicht oft Familien getroffen, deren Glieder einen überraschend offenen und unbefangenen Blick für ausgesprochene Familienuntugenden besitzen, die über die Familieneigenheiten sich nicht genug mokieren können und die sich selber förmlich unausstehlich Vorkommen? Sieht man aber genauer hin, so sind das regelmäßig Familien mit ganz prononciertem Familiensinn, geschlossene Kreise mit alten Überlieferungen, die für Antastungen der Familien­ehre seitens Dritter außerordentlich empfindlich sind. Ganz so geht es mit dem jüdischen Antisemitismus. Er bildet den vollgültigsten Beweis für das unglaublich lebhafte Zu­sammengehörigkeitsgefühl der Juden. Der Jude haßt in dem anderen Juden sich selbst. Er fühlt sich ihm zu nahe, als daß er ihn mit den Augen der allgemeinen Menschen­liebe sehen könnte. Der Anblick eines Juden lädt den

Juden zu Selbstbetrachtung ein.-

Die Judenliebe kennt keine staatlichen Grenzen und hat selbst die überaus tiefgehenden religiösen Gegensätze im Innern des Judentums überstanden. Wenn der orthodoxe Jude auch durchaus davon durchdrungen ist, daß der liberale, der neologe Jude vom überlieferten Judentum gänzlich ab­gefallen sei, und wenn er auch die Aufrechterhaltung jed­weder Gemeinschaft mit ihm als Juden für unmöglich er­klärt: Jude bleibt er für ihn nach wie vor. und nicht nur in dem Schmerz, den er wegen seines Abfalls empfindet, auch in dem Anstoß, den er an seinem religiösen Lebens­wandel nimmt, kommt die unzerstörbare Judenliebe zu deut­lichem Ausdruck. Der liberale Jude hinwiederum, wenn er dem jüdischen Religionsgesetz nicht vollkommen entfremdet ist, hat nicht selten die Anwandlung einer seltsamen Rüh­rung, wenn er den orthodoxen Juden die Vorschriften der Väter befolgen sieht. Ein weicher Hauch aus verklungenen Tagen weht ihm entgegen, ein Gruß aus verlorener Heimat, in der man zu Hause war, wie seitdem nirgendwo mehr auf

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