Der Wert des Maimunischen Kommentars liegt nicht bloß darin, daß er der erste seiner Art war, nicht bloß in den Wort- und Sacherklärungen, nicht bloß in der Schlichtung der oft durcheinander wogenden Lehrmeinungen, sondern hauptsächlich in den Einleitungen zu einzelnen Ordnungen und Traktaten der Mischna. Hier zeigt sich schon der Meister der Systematik, hier regt schon „der große Adler“ — wie man Maimonides später nannte — seine Flügel zum Aufschwung ins Reich des philosophischen Denkens. Gleich die Einleitung zur ersten Ordnung der Mischna enthält einen wertvollen historischen Überblick über die Fortsetzung oder Entwicklung der Lehre von Moses zu den Propheten, von diesen zu den Männern der großen Versammlung, von diesen zu den Soferim, von diesen zu den Präsidenten des Synhedrion (Hillel, Jochanan b. Zakai, Gamaliel u. a.), von diesen zu den Tanaim (den Lehrern der Mischna) und Amoraim (den Lehrern der Gemara) bis zum Abschluß des Talmud zirka 500 und darüber hinaus bis zu den Gaonim (den Vorstehern der talmudischen Hochschule) in Babylon bis c.irka 1038. Noch wertvoller sind die Einleitungen, in welchen Maimonides Exkurse ins Religionsphilosophische unternimmt, die ethischen Sentenzen der Mischna beleuchtet, in den dürren, juristisch gefaßten Lehrstoff Geist von seinem Geiste haucht und so bezeugt, daß das Judentum der Mischna nicht bloß eine Religion des „Gesetzes“, sondern auch eine Religion des philosophischen Denkens und des ethischen Handelns ist. Glauben heißt bei ihm philosophisch denken, den Glauben begründen, und ethisch handeln heißt, den Gedanken an Lohn oder Strafe ausschließen. Und wenn die Thora- dennoch den Lohngedanken betont, so geschieht es aus pädagogischen Gründen. Bekannt ist das Gleichnis Maimonides vom Schüler, dem man je nach seiner Altersstufe entsprechende Belohnung versprechen muß. um ihn zum Lernen anzuregen, bis er dann im Lernen selbst, in der Erkentnis, den schönsten und besten'Lohn erblickt. So wollte auch die Thora das Volk in seiner Kindheit, in seiner geistigen Unreife durch den Lohngedanken gewinnen und für das Geistige und Moralische erziehen.
In der Einleitung zum zehnten Abschnitt des Traktates Sanhedrin stellt Maimonides dreizehn Glaubensartikel zusammen, die er dann auch philosophisch begründet, und in der Einleitung zum Traktat „Pirke Abot“ (Sprüche der Väter genannt), der eine Sammlung ethischer Sentenzen enthält, entwirft er im Geiste der Bibel und im Geiste des großen Aristoteles sein System der Ethik.
b) Der Ritualkodex — „Misne Tora".
Dieses an Umfang und Inhalt reiche, durch systematische Einteilung und prägnante Darstellung hervorragende Werk bildet ein Kompendium des gesamten im Talmud auf bewahrten, überaus reichen Lehrstoffes der „mündlichen Lehre“ und will ein leicht faßliches Handbuch aller Gebote und Verbote der gesamten biblischen und talmudischen, religiösen und