Heft 
(1955) 2
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Rückblick eines Wittenberger Arbeiters auf den 1.Mai

Nach dem ersten Weltkrieg wurde der 1. Mai laut Gesetz der National­versammlung von Weimar als gesetzlicher Feiertag erklärt und die Arbeiterklasse konnte ihren Weltfeiertag ohne Aussperrung und Entlassung wegen Teilnahme an der Maifeier begehen.

Am frühen Morgen wurden die Arbeiter durch Weckruf der Arbeiter­sportler geweckt und gingen mit Frau und Kindern zum Sammelplatz, um von hier aus ins Grüne zu marschieren. Meistens wurde der Ausflug nach Weisen, Breese oder Bentwisch gemacht. Für Unterhaltung sorgten die Arbeitersportler und der Arbeitergesangverein. Mittagessen brauchten unsere Frauen an diesem Tage nicht zu kochen, und waren so mal frei von häuslichen Sorgen. Mancher Spießbürger schaute hinter den Gardinen auf dieStraße, auf der Arbeiter den l.Mai durch Arbeitsruhe und Demonstration begingen. Die größte Maikundgebung hatten wir in Wittenberge nach dem Kapputsdh, als die geeinte Arbeiterklasse ihre volle Macht entfaltete. Die Ebert-Severing-Regierung verriet jedoch die Arbeiter und vertrat somit die Interessen der Bourgeoisie. Leider glaubten viele Arbeiter an das Versprechen, daß in den Bielefelder 12 Punkten verkündet wurde. Den Putschisten wurde kein Haar gekrümmt, aber mancher Arbeiterkämpfer wurde eingesperrt. Aus diesem Verrat hatten die bewußtesten Arbeiter ihre Lehren gezogen und feierten unter sich den l.Mai mit Demonstration und Ausflug. Die Gewerkschaften waren in dieser Zeit in ihrer Führung von rechten Sozialdemokraten besetzt. Zum Schaden der Arbeiter kam es zu Gewerkschaftsspaltungen. Jede Maidemonstration war von Polizei be­gleitet, damit die getrennt marschierenden Arbeiter nicht zusammen­kamen. Das änderte sich, als die KPD eine richtige Führung unter Ernst Thälmann erhielt und nun um die Einheit der Gewerkschaften kämpfte. Die Maifeiern sind dann nur von den Gewerkschaften veranstaltet worden und demonstrierten den Kampfwillen der fortschrittlichen Arbeiterklasse. Die rote Nelke und das Maiabzeichen berechtigten zum freien Eintritt zu den Sport- und Kulturveranstaltungen.

Auch die Berliner Arbeiter hatten im Jahre 1929 einen blutigen 1. Mai, wo der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel durch Schießbefehl 29 Arbeiter durch die Schupo niederknallen ließ. Danach erfolgte das Ver­bot des Roten Frontkämpferbundes. Am 1. Mai 1929 wollte in Wittenberge die KPD mit der SPD zusammen demonstrieren. Aber die Funktionäre der SPD riefen die Polizei und so mußten sie getrennt marschieren. Dann kam die Zeit der faschistischen Diktatur, wo wir fortschrittlichen Genossen nicht mitmachten.

Am 1. Mai 1955 wird die Arbeiterklasse nicht nur Rüdeschau auf 65 Jahre Kampf halten, sondern sie wird sich auch der Aufgaben bewußt sein, die sie noch zu lösen hat, denn noch ist ihr unerbittlicher Feind nicht in ganz Deutschland geschlagen und vernichtet. Wilhelm witte

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