Heft 
(1955) 5
Seite
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O. KLINGNER

Qedanken zuin zehnjährigen Bestehen des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands

Nichts Trostloseres gab es in den ersten Wodien nach der Kapitulation Deutschlands als den Anblick der Trümmer. Mit den Häusern, in die wir aus- und eingingen, war ein Stück unseres eigenen Erlebens, unseres Selbst hinweggerissen worden, und über den Steinwüsten hing die Trauer um das Unwiederbringliche. Entwurzelt und heimatlos fanden wir uns vor dem Dahingegangenen. Trost allein und Schirm schien der Bereich des Geistigen zu gewähren. Doch war nicht auch hier alles fragwürdig gewor­den? Hatte das Geistige, hatten die Dichtung, die Musik vermocht, uns vor dem Einbruch des Barbarischen zu bewahren, hatte es dem Deutschen die Kraft verliehen, dem Unmenschlichen entgegenzutreten, dem Treiben der SS in den Konzentrationslagern Einhalt zu gebieten? Hatten nicht die Dichter und Wissenschaftler die Enthumanisierung gefördert, ihr Vorschub geleistet, wenn sie sich aristokratisch gaben, den autokratischenFührer verherrlichten und eine Rasse gegen die andere auszuspielen suchten? Sollte man nicht gar den Gründen für den Zerfall des deutschen Menschen in den Werken der Klassiker nachspüren? Schon erschien Faust als der unselige Ahne der Faschisten, als der große Sünder, der in den Tiefen der Sinnlichkeit untergeht, der Mann der Lebensgier ohne Maß, der unein­geschränkt Hingabe an den Taumel sucht.

So sahen wir auch unsere geistige Behausung brennen, auch sie drohte in Schutt und Asche zu versinken. Und es war geboten, aus dem Flammen­meer zu bergen, was uns für immer Besitz bleiben mußte, sollten wir uns nicht als deutsche Nation vollends verlieren. Es war der humanistische Be­standteil unserer geistigen Welt, den es zu retten galt und der der Grund­stein des Hauses werden konnte, das zu errichten sich verantwortungs­bewußte Männer angelegen sein ließen.

Diese Männer gründeten, nachdem bereits in den ersten Junitagen auf Anregung Johannes R. Bechers eine Vorbesprechung stattgefunden hatte, am 4. Juli 1945 den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutsch­lands. Die Leitsätze, auf die sich die Gründer einigten, waren auszugs­weise:

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