Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

studirt. Die physikalische Chemie, welche die geschlichen Beziehungen der phy­sikalischen Eigenschaften zu der chemischen Zusammensetzung untersucht, hatte durch die Entdeckungen Gay Lyssac's und v. Humboldt's über die Verbindungs­verhältnisse der Körper im Gaszustand und von Mitscherlich über die Be­ziehungen der Krystallgestalt zur chemischen Zusammensetzung bereits einen sesten Boden gewonnen, und in den chemischen Proportionen schien das Gebäude seine Spitze erhalten zu haben und vollendet dazustehen.

Alles, was das Ausland in der vorangegangenen Zeit an Entdeckungen er­worben hatte, brachte jetzt auch in Deutschland reiche Früchte.

Eine organische Chemie, oder was man heute so nennt, bestand damals noch nicht; Thenard und Gay Lyssac, Berzelius, Prout, Döbereiner hatten zwar den Grund zu der organischen Analyse bereits gelegt, allein selbst die großen Untersuchungen von Chevreul über die setten Körper erregten viele Jahre hin­durch nur geringe Aufmerksamkeit. Die unorganische Chemie nahm noch allzu- viele und zwar die besten Kräfte in Anspruch.

Meine in Paris gewonnene Richtung war eine andere; durch die Arbeit, welche Gay Lyssac mit mir über das Knallsilber gemacht hatte, wurde ich mit der organischen Analyse vertraut, und ich sah sehr bald, daß aller Fortschritt in der organischen Chemie wesentlich von ihrer Vereinfachung abhängig sei; denn man hat es in ihrem Gebiete nicht mit verschiedenartigen Elementen, die sich in ihren Eigentümlichkeiten erkennen lassen, sondern immer mit denselben Elementen' zu thun, deren Verhältniß und Anordnung die Eigenschaften der organischen Verbindungen bestimmt. Was in der unorganischen Chemie eine Reaction war, mußte in der organischen eine Analyse sein.

Die ersten Jahre meiner Laufbahn in Gießen verwendete ich beinahe aus­schließlich auf die Verbesserung der Methoden der organischen Analyse, und mit den ersten Erfolgen begann jetzt an dieser kleinen Universität eine Thätigkeit, wie sie die Welt noch nie gesehen.

Für die Lösung unzähliger Fragen, die sich an die Pflanzen und Thiere knüpfen, an ihre Bestandteile und an die Vorgänge ihrer Umwandlung in den Organismen führte ein gütiges Geschick in Gießen die talentvollsten jungen Männer aus allen Ländern Europa's zusammen, und man kann sich denken, welch' eine Fülle von Thatsachen und Erfahrungen durch so viele Tausende von Experimenten und Analysen an mich kam, welche jährlich und viele Jahre lang von zwanzig und mehr unermüdlich tätigen und geschickten jungen Chemikern ausgeführt wurden.

Ein eigentlicher Unterricht im Laboratorium, den geübte Assistenten be­sorgten, bestand nur für die Anfänger; meine speciellen Schüler lernten nur M Verhältniß, als sie mitbrachten; ich gab die Ausgaben und überwachte die Aus­führung; wie die Radien eines Kreises hatten alle ihren gemeinschaftlichen Mittelpunkt. Eine eigentliche Anleitung gab es nicht; ich empfing von jedem Einzelnen jeden Morgen einen Bericht über das, was er am vorhergehenden Tage gethan hatte; sowie seine Ansichten über das, was er vorhatte; ich stimmte bei oder machte meine Einwendungen; Jeder war genöthigt, seinen eigenen Weg selbst zu suchen. In dem Zusammenleben und steten Verkehr miteinander, und indem Jeder theilnahm an den Arbeiten Aller, lernte Jeder