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Deutsche Rundschau.
Acte wird die Decoration geändert; der geschickte Dramaturg überragt um Kopfeslänge den dramatischen Dichter.
Das Deutsche Theater hat außer einigen NeuauMhrungen älterer Dramen drei neue moderne Schauspiele gebracht: am Sonnabend den 20. September ein Schauspiel in 4 Aufzügen von Ernst von Wildenbruch „Die Haubenlerche"; am Sonnabend den 1. November ein Schauspiel in 3 Auszügen von Ludwig Fulda „Das verlorene Paradies"; am Sonnabend den 15. November ein Trauerspiel in 5 Acten von Ludwig Anzengruber „Hand und Herz". Das Fulda'sche Stück ist das liebenswürdigste, das Wildenbruchffche das originellste und das Anzen grub erffche das trostloseste von den dreien. Der Eindruck, den der Zuschauer von dem ersten Acte der „Haubenlerche" empfängt, ist ein ebenso überraschender wie erfreulicher. Ernst von Wildenbruch ist unter das Volk, nicht unter das historische, sondern unter moderne Arbeiter, aus der Vergangenheit in die Gegenwart, aus der Staatsaction in das Kleinleben gegangen. Nichts von großen, volltönenden Worten, nichts von Massentumult, Alles einfachste, schlichteste Wirklichkeit. Es ist in der Morgenfrühe auf dem Vorhofe, der zwischen der Papierfabrik und dem Herrenhause liegt. An dem berlinischen Dialekt der Leute merken wir die unmittelbare Nähe der großen Stadt. Ein junges Dienstmädchen Lene will eben an die Arbeit gehen, als sie bemerkt, daß ein Mann über die niedrige Mauer, die den Hof von der Straße trennt, klettert. Es ist Hermann, der zwanzigjährige Stiefbruder des Fabrikbesitzers, ein leichtfertiger überreifer Schlingel. Nun gibt es ein lustiges Gerede und Geschäker; zimperlich ist das Mädchen nicht, aber Handgreiflichkeiten weiß sie sicher abzuwehren. „Haubenlerche" nennt sie Hermann, weil sie die Früheste und Munterste auf dem Hofe ist. Zwanglos gruppiren sich dann die Personen auf beiden Seiten des Bildes: auf der einen, um Lene, ihre kränkliche Mutter, die Wittwe eines Arbeiters aus der Fabrik, Paul der erste Büttgefelle, der in seiner Schüchternheit noch nicht das rechte Wort gefunden hat, um Lenen Hand und Herz anzubieten, und der Lumpenfactor, der socialdemokratifch angehauchte Ale Schmalen- bach, Lenens Onkel — in der musterhaften Darstellung des Herrn Engels eine der köstlichsten Volksfiguren aus dem modernen Berliner Leben; auf der anderen der Fabrikbesitzer August, ein idealer Arbeiterfreund, der ganz und gar sein Dasein mit dem seiner Arbeiter verschmelzen möchte, der von Gleichheit und Brüderlichkeit überfließt, über dessen „geschwollene" Redensarten der nichtsnutzige, aber weltgewandte Bruder sich bald vor Lachen ausschütten, bald vor Aerger bersten will; die Cousine Juliane, ein älteres sanftes Mädchen mit einer verschwiegenen Liebe zu August im Herzen, die ihre beständige Noth hat, zwischen den Leiden an Jahren so ungleichen, in ihren Charakteren so feindlichen Brüdern zu vermitteln und den Ausbruch eines unversöhnlichen Streites zu verhindern. Jede dieser Figuren gibt sich lebenswahr, voll und rund, selbst der Idealist bleibt in diesem ersten Äcte noch innerhalb der Schranken der Wirklichkeit; das Ganze ist so anschaulich, so frisch und unmittelbar, das Wirklichkeitsbild so geschickt in die Bühnenoptik gerückt, daß Wildenbruch bisher nichts geschrieben, was dieser Scenenreihe an Natürlichkeit und Einfachheit, an Uebersichtlichkeit und Bewegung aus dem Innern heraus, ohne äußerliche Zuthaten, gleichkäme. Aber einem solchen Stoffe gegenüber, bei dem Alles von der Entwicklung der Charaktere abhängt, in dessen Handlung der Zufall nicht mitspielen darf, mußte sich der eingeborene Mangel des Wildenbruch'schen Talents als doppelt verhängnißvoll erweisen. Schon in seinen historischen Dramen, in denen ihm doch die Thatsachen den Weg des Helden bis zu einem gewissen Grade vorzeichnen und ihm einen Halt gewähren, wenn er zu stürzen droht, leidet seine Motivirung an Unsicherheit und Sprunghaftigkeit. Um zu seinem Ziel zu kommen, verschlägt es ihm nichts, mit den wunderlichsten Einfällen zu arbeiten. Die große historische Bewegung, der Schwerterklang, der Lärm einer Volksversammlung verschlingt dann die Unwahrscheinlichkeit. Bei einer Handlung aus dem modernen Kleinleben rächt sich jede Entfernung von dem, was wir für wahrscheinlich halten, jede leise Umbiegung der Charaktere ungleich empfindlicher. Daß der Fabrik