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Deutsche Rundschau.
Besser steht es im Berliner Museum mit den Niederländern des gleichen Jahrhunderts. Die schöne Wirksamkeit der van Eyck und ihrer Schüler kann auch ein Anfänger bei uns gründlich kennen lernen. Die wunderbare Erhaltung der Tafeln erhöht ihre Verständlichkeit. Sie zeigen den Inhalt des städtischen Lebens in einem der reichsten Landstriche des damaligen Europa's. Leider verrathen sie zugleich die Unfruchtbarkeit dieser Zeit für höhere geistige Arbeit, und dieser Mangel ist der Grund, weshalb die niederländische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts für den Anfänger trotzdem wenig enthält. Von den letzten Erzeugnissen dieser Malerei, in denen die schaffende Phantasie mehr zum Herzen spricht, besitzen wir so gut wie nichts: den Malereien Memling's, die in München zu bewundern sind.
Kommen wir nun zu den großen Meistern des Cinquecento.
Welche Schwierigkeit es habe, sich Lionardo's Thätigkeit vorzustellen, weiß Jeder. Es handelt sich theils um halb zerstörte, theils um nicht mehr nachweisbare, um in ihrer Originalität bestrittene und um eine nur sehr geringe Zahl als echt anerkannter Gemälde, von denen allen das Berliner Museum keines aufweist. Daß ich meine Zuhörer auf das Eindringlichste bitte, dasjenige umfangreiche Werk, welches, mit dem Namen Lionardo bezeichnet, bei uns aufgestellt ist, nicht als eine Arbeit Lionardo's anzusehen, wird selbstverständlich erscheinen. Was ich meinen Zuhörern von Lionardo vorlegen kann, sind Stiche und Photographien nach Gemälden und Handzeichnungen. Es ist ungemein schwierig, dem Anfänger auf Grund dieses Materiales das richtige Gefühl von Lionardo's Thätigkeit einzuflößen.
Nicht besser sind wir bei Raphael daran. Die ihm auf dem Berliner Museum zugeschriebenen gemalten Madonnen würden, selbst wenn sie seine Arbeiten wären, in Zeiten gehören, die dem Beginn seiner Selbständigkeit und Meisterschaft weit vorangingen. Die als Raphael's Werk anzuerkennende Madonna Colonna steht, aus früher Zeit stammend, auch als echtes Gemälde ziemlich allein da. Sie würde, fehlte sie überhaupt, kaum eine Lücke in Raphael's Entwicklung entstehen lassen. Von Raphael's Meisterwerken ersten Ranges besitzen wir keines. Die Teppiche sind dermaßen ruinirt, daß ich diese herrlichen Schöpfungen meinen Zuhörern bei Weitem besser aus den Photographien der englischen Cartons und aus Dorigny's Stichen erkläre.
Drei Gesichtspunkte sind dem Docenten vorgezeigt, die er bei Raphael im Auge zu halten hat.
1. Bei den einzelnen Hauptwerken zu zeigen, wie die früheren und die späteren Jahrhunderte den gleichen Inhalt darstellen. Dazu bedarf es einer Fülle von Reproductionen dieser Darstellungen, die die Berliner Galerie zum Theil liefern könnte, aber die auch sonst zu haben sind.
2. Die geistige Atmosphäre klar zu machen, aus der heraus Raphael's schöpferische Kraft gerade das zu Stande brachte, was wir vor uns haben, und die eigene Arbeit, mit der er sich nach vielen, in seinen Handzeichnungen darliegenden Versuchen zur letzten Höhe steigerte.
3. Den Einfluß seiner Arbeit auf die gleichzeitige Kunst und aus die der folgenden Jahrhunderte zu zeigen.