80 Deutsche Rundschau.
Grenzgebiet zu beleuchten, auf welchem musikalische Wirkungen mit unserem Nervenleben Zusammentreffen.
Billroth's Arbeit nahm einen sehr unterbrochenen, stückweisen Fortgang. Er konnte sie stets nur in seiner Ferienzeit — in St. Gilgen oder in Abbazia — nach längerer Pause wieder aufnehmen. Im Sommer 1888 scheinen seine Ideen über Musik ihn zuerst anhaltender und zusammenhängender beschäftigt zu haben. Er schrieb mir damals aus St. Gilgen:
„Wer ist musikalisch? Das wäre so eine lieberschrift für einen Essay für Dich. Wie complicirt ist dieser Begriff! Der eine hat vorwiegend rhythmisches Talent und Empfindung (das elementar-rhythmische Moment im Menschen ist der Herzschlag), der Andere hat vorwiegend melodisches Talent (Melodie ist vom Rhythmus nicht zu trennen; die Gliederung des inenschlichen Körpers, seine Doublirung nach horizontaler und verticaler Richtung ist ein Theil seiner elementaren Grundlage); wieder ein Anderer erscheint musikalisch durch ein eminent technisches und mechanisches Talent (elementares Moment: die Freude an der lleberwindung von Schwierigkeiten als Hauptprincip des gesteigerten Selbstbewußtseins); wieder ein Anderer erscheint musikalisch durch eine llebertragung seines intensiven Temperamentes im dramatischen Ausdruck (elementares Moment: Wunsch, so großartig wie möglich zu erscheinen, wie etwa der Psau, der sein Rad vor dem Weibchen schlägt); wieder ein Anderer durch colossales Tonsormen- und Rhythmengedächtniß; wieder ein Anderer durch Hingabe an die sinnliche Gehörswirkung u. s. w. — In mir ist Alles Chaos. Ich täusche mich gern darüber, daß ich nur phantasmagorire; ich könnte auch einmal etwas Vernünftiges über Dinge schreiben, die außer meinem Berus liegen; die kurzen Ferien seien nur daran schuld, daß sich nichts in mir zur Reise ausbildet. Ich bilde mir, wie gesagt, solche Dinge gerne ein. Doch bin ich mir dieser Einbildung bewußt. Auch in meiner Specialwissenschast habe ich nur anregend, nur als Pionier und Mineur gewirkt; doch wenn das Terrain geebnet, der Weg gesunden, die Mine gesprengt war, dann ließ ich gern Andere dort bauen und Früchte ernten."
In einem Briese vom September 1890 kommt Billroth wieder aus seine Arbeit zurück:
„Deine freundliche Aufmunterung hat denn doch endlich zu dem Anfang einer Gestaltung von Ideen geführt, die mich seit Jahren erfüllen. Ich schreibe im Augenblick einen Essay: ,Anatomisch-physiologische Aphorismen über Musik. Wer ist musikalisch?' — Es soll einen Theil jener Reihe von Essays bilden, welche ich unter dem Titel: ,Grübeleien eines Spaziergängers am Abersee' zusammensassen möchte, falls sich die Dinge zu meiner Zufriedenheit gestalten. Vorläufig schwillt mir das Ding aus wie der Faust'sche Pudel hinter dem Ofen, und ich fürchte, des Pudels Kern wird auch nichts mehr als ein fahrender Scholast sein. Doch das Ding macht mir Spaß; ob es auch Anderen Spaß machen würde, ist freilich eine andere Frage."
Wieder ein Jahr später , im September 1891, schreibt Billroth aus St°
Gilgen O
„Vor einem Jahre habe ich hier und in Abbazia ein ziemlich dickes Manuscript zu Papier gebracht: Aphorismen zur Anatomie und Psycho-Physiologie des Musikalischen'. Es lag unberührt ein Jahr; nun nahm ich es hier wieder vor. Das erste Capitel: ,lieber den Rhythmus als eines der wesentlichsten, mit dem Organismus des Menschen innig verbundenen Elemente der Musik' Passirte meine Kritik leidlich, so daß ich es ins Reine schrieb. Auch der Anfang des zweiten Kapitels: ,lieber die Beziehungen von Tonhöhe und -Tiefe zum menschlichen