Wer ist musikalisch?
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Organismus' war noch erträglich. Doch dann kamen die Fragen: Sprache, Gesang, Vocale, Obertöne. Ich ward unsicher über die Richtigkeit einiger Sätze. So fing ich an, in Helmholtz' Buch zu blättern, machte eine Excursion in Landois' Buch über Thierstimmen, kam wieder zu Helmholtz zurück, und zwar zur vierten Auslage, die gegenüber der ersten Auslage, die ich srüher studirte, doch viel Neues enthält. Mit den Vocalen, Obertönen, Sprache rc. kam ich ins Psychologische, in die Entwicklung der Sprache und des Gesanges beim Kinde und so in Preyer's dickes, dabei höchst interessantes Buch von fundamentaler Bedeutung. Ich will ja nichts Gelehrtes schreiben, sondern nur den Dilettanten in diesen Dingen die Illusionen abschütteln. Beruht das Componiren aus einem Act, der mehr den Hallucinationen oder Illusionen zugehört? Dies sührte mich wieder zu einem Buche über Hallucinationen, über Schlas, Träume rc., ja in die Geisteskrankheiten hinein. Ich möchte nicht einen Satz schreiben, der eine Unklarheit über diese Dinge verrätst, nicht ein Wort salsch oder für den Kenner zweifelhaft anwenden. — Nun habe ich so viel Vorzügliches gelesen, daß ich mich gar nicht traue, mein Manuscript vorläufig weiter anzusehen. Du siehst, lieber Hans, daß ich nicht zum populären Schriftsteller geboren bin. Bei Anderen gehe ich leicht über Ungenauigkeiten hinweg, wenn mich die Persönlichkeit des Schriftstellers anzieht; ich nehme bei mir jeden Satz bleiern schwer. So wird wohl nichts ans meinem projectirten Essay werden. Schadet nichts! Wenn es nothwendig ist, wird es doch geschrieben, von irgend einem Anderen. Was in einer Zeit Einer denkt, denken Hunderte mit ihm."
Endlich, am 21. November 1891, sendet mir Billroth ein Stück seiner Abhandlung mit folgendem Brief:
„So oft Du mich auch ermuntert hast, mancherlei meines gelegentlichen Geplauders über Musik niederzuschreiben, schicke ich Dir doch beiliegendes Manuscript- sragment mit etwas Herzklopfen. Willst Du es gelegentlich durchlesen, so wird es mich freuen. Ich habe diese Gedanken niedergeschrieben, um mich über ihren Inhalt klar zu denken, und auch aus Freude am Gestalten selbst, denke aber dabei nicht — oder wenigstens noch lange nicht — ans Druckenlassen. Beim Niederschreiben dachte ich an ein allgemein gebildetes Publicum, habe mich aber möglichst bemüht, weder in den medicinischen noch philosophischen Jargon zu verfallen . . . Mit den beiden ersten Kapiteln, die ich Dir schicke, ist, meiner Auffassung nach, Alles erschöpft, was man als ,Physiologie der Musik' oder ,Physiologie des Musikalischen' bezeichnen kann. Alles fiebrige ist auf Convention basirt. Da aber die Convention wieder aus der Psychologie des Menschen als Gesellschasts- oder Heerdenthier si^oon xoliklüon) — und bei der llntrennbarkeit von Psyche und Physis schließlich aus Psycho-Physiologie beruht, so ist die Fortsetzung dieser Betrachtungen im Sinne der Inhaltsübersicht (letztes Blatt) doch vielleicht erlaubt."
Rührend an einem Manne von Billroth's Bedeutung ist die zaghafte Bescheidenheit, mit der er in mehreren Briefen an mich von seiner Arbeit spricht —- das Mißtrauen in seine Kenntnisse und in seine stilistische Kunst. Die Be- sorgniß, zu gelehrt und pedantisch zu schreiben, mag ihn auch veranlaßt haben, den einzelnen Capiteln seiner Abhandlung ursprünglich musikalisch-humoristische Ueberschristen zu geben, und zwar: I. Unrein. II. VIIeZro sorioso, mn non troppo. III. Ornve. IV. Büoinn eon Variamoni. V. Loronntn. VI. Intormo^o« VII. kinnlo, tempo chu8to. Diese auf der ersten Skizze befindlichen Aufschriften strich er später Weg. Die Ueberschrift „Wer ist musikalisch?" trug ursprünglich nur das letzte Capitel. Billroth hat sie dann endgültig (vielleicht weniger zutreffend, weil zu eng) zum Titel der ganzen Abhandlung gewählt.
Deutschs Rundschau. XXl, 1. 6