Wer ist musikalisch?
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möchte ich bezweifeln; bei ihnen ist das Musikalische, was sie von Natur in sich haben, mit dem Gefühl für rhythmische Bewegung so ziemlich erschöpft. Melodie und Harmonie sind erworbene Producte der Kultur.
Fast alle Menschen und auch viele Thiere werden von wiederkehrenden Rhythmen angenehm berührt; die Menschen fühlen sich veranlaßt, mit ihrem Körper, zumal mit Kops und Händen gleiche rhythmische Bewegungen auszuführen. Dies muß doch Wohl seinen Grund darin haben, daß die als Rhythmus empfundene Bewegung auf gewisse Eigenschaften unseres Körpers trifft, die uns aus Erfahrung bekannt und durch Hebung bereits gewohnt sind, so daß die Wahrnehmung eines Rhythmus sich sofort ohne Restexion in eine rhythmische Bewegung umsetzen kann. Hierüber läßt sich Folgendes sagen:
Rhythmische Bewegungen gehören zu den wichtigsten, zum Leben nöthigsten Eigenschaften unseres Körpers. Bor Allem ist es das rhythmische Athmen, an welches wir für gewöhnlich freilich nicht denken, dessen Wechsel in Geschwindigkeit und Tiefe uns aber sofort in seiner ganzen Wichtigkeit für das Behagen unserer Existenz bemerkbar wird, sobald es irgendwie gehemmt ist. Die rasche Erhitzung unseres Körpers durch schnell aufeinander folgende Muskelzusammenziehungen beim Laufen, beim Bergaufsteigen, zwingt uns, den Rhythmus unserer Athembewegungen zu beschleunigen, ebenso wie jedes krankhafte Hemmniß für die Tiefe der Züge uns zu häufigeren Bewegungen veranlaßt. Wird uns ein beschleunigtes Athmen zum Bedürfniß, so bringt dies eine gewisse seelische Erregtheit mit sich, ist auch bisweilen durch eine solche hervorgerufen. Diese kann uns, zumal wenn sie sich nach und nach einstellt, und ihre Ursache eine erfreuliche ist, bis zu einem gewissen Grade angenehm sein, so lange die Regelmäßigkeit des Athem-Rhythmus nicht gestört, und die Schnelligkeit desselben keine allzugroße wird. Sie steigert sich aber zum Angstgefühl, sowie das Athmen unrhythmisch wird, und einen gewissen Grad von Schnelligkeit überschreitet, oder sowie der Wechsel ein sehr unvermittelter ist. Dieses Angstgefühl ist zweifellos bedingt durch einen allmälig sich entwickelnden oder plötzlichen Lufthunger; wir fürchten zu ersticken; es kommt uns zum Bewußtsein, daß Wir wieder regelmäßig und ruhig athmen müssen, um dieses Angstgefühl zu verlieren. Soweit ich es an mir selbst beobachten konnte, ist es jedoch nicht der mangelhafte Chemismus, nicht der Sauerstoffhunger, dessen wir uns direct bewußt werden, und von welchem doch nur Aerzte und Naturforscher etwas wissen, sondern das Gefühl der leichteren oder schwierigeren Bewegung unserer Athemmuskel, jene feinste Empfindung für den jedesmaligen Grad der Zusammenziehung unserer Muskel, welche, wenn auch von Jugend auf erfahren, uns für gewöhnlich nicht zum Bewußtsein kommt, weil wir nicht darauf achten. Je weniger wir uns des rhythmischen Athmens bewußt sind, um so behaglicher fühlen wir uns, so bei vollkommener Ruhelage, vor dem Einschlafen. Am langsamsten und ruhigsten athmet der schlafende Mensch, wenn er nicht etwa durch Träume beängstigt wird. Alle Thiere, welche mit Lungen athmen, vollziehen diese Function in bestimmtem Rhythmus und bekommen durch die Erfahrung, daß die Athembewegung bis zu einem gewissen Grade ihrem Willen unterworfen ist, das Bewußtsein einer rhythmischen Be-