Heft 
(1894) 81
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Wer ist musikalisch?

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durch alle Glieder, d. h. sie veranlaßt uns, den durchs Ohr aufgenommenen Rhythmus in Bewegungen des ganzen Körpers umzusetzen: wir werden nach dem Gesetze der Mitbewegungen zur Bewegung mit sortgerissen. Dies geht nicht nur von den Gehörsempsindungen aus; auch das Sehen von Tanzenden und Marschirenden kann rhythmische Mitbewegungen bei uns auslösen. Das psycho-physiologische Gesetz der Mitbewegungen und Mitempsindungen" hat in der gesammten animalischen Welt eine so weite Verbreitung, ist zumal von so eminenter Bedeutung für unsere ganze sociale und ethische Kultur, daß es uns den Eindruck eines fundamentalen Naturgesetzes für die gesammte organi- sirte Materie macht; die Wirkung der Menschen aus einander beruht wesent­lich darauf*).

Es würde uns zu weit ab von unserem Gegenstände führen, wenn wir näher auf die mächtigen socialen Folgen der Mitbewegungen und Mitempfin­dungen eingehen wollten, in welchen nach meiner Auffassung eines der stärksten Fundamente der Ethik besteht.

Nicht nur die gegenseitige Beobachtung der Menschen, sondern auch die Beobachtung der Thiere, mit welchen der Mensch am meisten in Berührung kommt, steigert, wenn uns auch nicht immer klar bewußt, unser Gefühl für rhythmische Bewegung, unfern Drang zur Mitbewegung; wir nehmen diese Beobachtungen, ohne es direct zu wollen, in unser Gedächtniß auf. Weitere Empfindungen und Beobachtungen knüpfen sich daran leicht an und erscheinen uns dadurch weniger fremdartig, sogar natürlich weil uns Alles natürlich erscheint, was sich an die Vorstellungen anschließt, die wir in unser Gedächtniß bereits ausgenommen haben, die gewissermaßen den Grundstock unseres geistigen Jchs" bilden.

Die rhythmischen Bewegungen eines Pferdes beim Gehen (Tnctants 2/4), Traben s^llaxro 2/4), Gallopiren (Allegro eon drio mit bi« Auftact), beim Carribrelaufen (llrssto ^ 4) gewähren uns ein besonderes Vergnügen, nicht minder die wundervollen rhythmischen Bewegungen laufender großer edler Hunde. Komisch wirkt aus mich immer die rhythmische Mitbewegung von Kops und Hals bei gravitätisch daherschreitenden Hühnern; bei jedem Schritt wird der ganze Körper in Bewegung versetzt. In der Vogelwelt tritt uns z. B- beim Ruf des Kuckucks, beim Schlag der Wachtel, beim Krähen des Hahnes auch ein sehr entschiedener Rhythmus entgegen; er wirkt aber weniger musikalisch aus uns wie der Laus des Pferdes, des Hundes, weil er sich nicht immer regelmäßig wiederholt.

Ich brauche die AusdrückeMitbewegung" undMitempfindung" immer in der Be­deutung, daß sich eine Bewegung oder eine Empfindung durch sinnliche Wahrnehmung von einem Individuum auf das andere überträgt, bezeichne also damit einenpsycho-physischen" Vorgang. In demrein physiologischen" Sprachgebrauch versteht man unterMitbewegung" den Vorgang des Ueberfpringens von Erregung eines Bewegungsnerven auf einen anderen Bewegungsnerven desselben Individuums, und unterMitempfindung" das Ueberspringen der Erregung eines Empfindungsnerven auf einen anderen Empfindungs- oder Sinnesnerven desselben Individuums. Dieser rein physische Vorgang hat zu unserem Gegenstände nur wenig Beziehung, doch werden wir am Ende des nächsten Abschnittes auch davon kurz zu sprechen haben-