Heft 
(1894) 81
Seite
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Deutsche Rundschau.

Ich möchte demnach behaupten, daß den Menschen und auch sehr vielen Thieren ein sundamentales Moment der Musik, nämlich eine mehr oder weniger bewußte Fähigkeit für das Aufsassen rhythmischer Bewegungen angeboren ist ^). Daß dieselbe den Menschen in sehr verschiedenen Graden zum Bewußtsein kommt, und ob sie eventuell zu Mitbewegungen führt, hängt einerseits von der Beobachtung und Erfahrung, andererseits von der größeren oder geringeren Erregbarkeit des Nervenstromes, sowie von dem mehr oder weniger leichten Ueberspringen der Erregung von den Sinnesbahnen auf die Bewegungsbahnen ab. Diese schnellere oder langsamere Fortpflanzung der Nervenerregung, so­wie die schnellere oder langsamere Erregbarkeit der Nerven ist wiederum theils angeboren, theils durch die Sitte anerzogen. Jeder hat Wohl den Unterschied zwischen lebhaften und phlegmatischen Naturen aus eigener Erfahrung kennen gelernt. Die meisten europäischen Kulturvölker, zumal die romanischen, süd­germanischen und südslawischen Völkerstämme sind im Ganzen mehr von raschem, lebhafterem Naturell und lieben dies auch an anderen Menschen, während die Nordländer, sowie auch die Orientalen ein ruhigeres Temperament haben und diesem auch bei anderen Menschen den Vorzug geben. Natürlich gibt es immer individuelle Ausnahmen. Die Religionen und Sitten großer Völkerstämme erhoben sogar den möglichsten Jndifferentismus, nicht nur die Unterdrückung jeder individuellen Regung, sondern auch die möglichste Unabhängigkeit von allen Reizen zum höchsten Ideal menschlicher Vollkommenheit. Äehnliche Principien durchströmen auch die Erziehung bei der englischen Nation. Als freies Individuum, unabhängig von allen äußeren Einflüssen, wie ein Fels im tosenden Meer stehen, gilt als höchste Vollkommenheit. Wer sich von dem, was um ihn vorgeht, irgendwie erregt oder mitbewegt fühlt, wird lächer­lich: so will es die Sitte. Es liegt ein orientalischer Zug darin, der die Neugierde und das Vergnügen am Wechsel der äußeren Erscheinungen freilich nicht ganz ausschließt; nur darf dadurch keine Aeußerung der Empfindung hervorgerufen werden. Wir unterschätzen die mächtige Bedeutung solcher an­geborenen oder anerzogenen Charaktereigenschaften für das praktische Leben keinesfalls; doch für die Freude an der Musik ist solchen Menschen eines der wichtigsten Momente entzogen. Wer wenig angeborene Freude an Mitempfin­dungen und Mitbewegungen hat, und bei wem die Aeußerung einer solchen Freude durch Erziehung nach und nach auch noch abgetödtet wird, der muß unmusikalisch werden.

Es ist eine ziemlich allgemein verbreitete Annahme, daß jedem Menschen das Gefühl für Rhythmus angeboren ist. Ich halte diese Annahme nicht für richtig, weil ich mich aus meiner Militärdienstzeit erinnere, daß es Menschen gibt, welchen das rhythmische Marschiren ebenso wenig beizubringen ist wie etwa das richtige Singen. Ich habe dann vor Kurzem genaue Erkundigungen über diesen Punkt eingezogen, so daß ich in der Lage bin, folgendes Authentische

i) Der Leser wird leicht herausfühlen, daß diese Frage mit dem Problem zusammenhängt, ob uns die Anschauungen von Raum und Zeit angeboren (a priori im Sinne Kant's) sind. Ich bin der Meinung, daß die Fähigkeit, diese Anschauungen zu bilden, uns angeboren sein müsse, daß sie uns aber nur durch die Erfahrung zur Vorstellung werden, und daß wir sie nur als solche bewußt (praktisch) verwenden können.