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Deutsche Rundschau.
Die allgemeinere Verbreitung, das Volkstümliche, sowie auch die Langlebigkeit gewisser Musik, beruht weit mehr aus dem Rhythmischen als dem Melodischen der betreffenden Musikstücke. Alle zu Volksliedern gewordenen und werdenden Melodieen sind von einfachem, für die Mehrzahl der Menschen leicht faßbarem Rhythmus. Früher waren es meist Tanzlieder, Wanderlieder, die zu Volksliedern wurden. Das in Ruhe zu singende Stimmungslied sängt als Liebeslied freilich schon bei den Griechen an und wurde im Mittelalter von den Troubadours besonders cultivirt, freilich auch wieder vorwiegend als Tanzlied (Ballade). Es hat aber in unserem Jahrhundert mehr Boden in der Stadtbevölkerung, als sentimentaler Gassenhauer; ob es im Niederland noch blüht, darüber habe ich keine Erfahrung; im Gebirge wird es durch das Jodeln ersetzt; die Liebeslieder sind da vorwiegend Gesellschaft^- und Tanzlieder. Der Rhythmus einer Melodie muß nicht nur kurz und einfach sein, sondern sich auch in gleicher Weise oft wiederholen, wenn sie zum Volkslied werden soll. Die bei unseren Gebirgsbewohnern noch immer neu entstehenden, meist improvisirten „Vierzeiligen" sind die letzten Reste der früher so sehr verbreiteten Tanzlieder. Die Körper- wie die Gedankenbewegungen waren im Mittelalter, Wie mir nach allen historischen Ueberlieferungen scheint, selbst beim Ausdruck des Vergnügens weit langsamer als jetzt. Die Menuetten, Sarabanden und Gavotten, welche zum Tanz, auch Wohl von den Tanzenden selbst gesungen wurden, machen uns jetzt einen fremdartigen, ernsten, oft melancholischen Eindruck, gleich geistlichen Liedern. Etwas davon steckt noch in den Tänzen unserer Gebirgsbevölkerung; dieselben sind vorwiegend langsam, gravitätisch. Die Tanzenden legen ihre Hände einander aus die Schultern oder an den Leib und bleiben stets in einer gewissen Entfernung von einander. Daneben haben sich auch Tänze mit schnellerer Bewegung („Schleunige") eingebürgert, wobei mehr gehüpft als geschleift wird. Dazu wird rhythmisch theils von den Tanzenden, theils von den Zuschauern in die Hände geklatscht, oder mit den Füßen gestampft, auf die Kniee, die Waden, die „Schuhblatteln" (Schuhsohlen) geschlagen. Die Melodie spielt dabei gar keine Rolle; nur die Tonhöhe, in welcher die zuweilen begleitende möglichst schrill erklingende Clarinette, gleichsam mitjuchzend und mittanzend, ihre Theilnahme äußert, steigert die gesammte Lustigkeit, bei welcher über allem Schreien, Klatschen und Klappern von der Melodie nichts mehr gehört wird. Der Gesammteindruck bleibt derselbe, Wie ich ihn bei der Tarantella in Capri hatte: Rhythmus allein kann schon als Musik erscheinen*).
0 Es ist sehr interessant, dem Zusammenhänge unserer Gebirgstänze und Tanzlieder mit denjenigen des Mittelalters nachzuspüren, die ihrerseits wiederum einen unverkennbaren Zusammenhang mit griechischer Musik, Tanzmimik und Recitation haben. Man unterschied: Umgänge und getretene Tänze (langsam feierlich), dann Ringeltänze (bei den Griechen um den Altar herum, später um ein Grab, ein verlobtes Paar, eine Chorgruppe); zu diesen Arten von Tänzen trat auch das Wort (als gesprochene oder gesungene Poesie) hinzu; endlich Springtünze (Satir- tänze, Hopser, Schleunige) mit instrumentaler Begleitung (bei den Griechen Flöte, unserem Clarinett entsprechend, Hirten- oder Satirstöte, gleich unserer Papagenostöte). Tie sogenannten „deutschen Tänze" in den Tanz- und Zunftstuben der Städte bestanden zuerst in einem langsamen.