Wer ist musikalisch?
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fächeren Formen nicht mehr interessiren und erfreuen, Vergnügen an jeder ihm neuen, complicirten Form findet, wie an einem Räthsel, deffen Lösung ihn ganz abgesehen von dem Werthe seines Inhalts, eben nur durch die Lösungsarbeit aufs Intensivste beschäftigt.
Hierzu sind nun drei theils angeborene, theils anerzogene Eigenschaften des Geistes und Charakters besonders nothwendig, aus deren Bedeutung für unsere geistige Ausbildung überhaupt wir noch oft zurückkommen werden.
1. Gedächtniß (hier also für die rhythmischen Formen). Wer dies nicht hat, oder nicht zu erwerben im Stande ist, wer in der fortlaufenden Bewegung eines Tonstückes die da und dort austretenden und sich wiederholenden einzelnen rhythmischen Gliederungen nicht wieder zu erkennen vermag, beim Ende des musikalischen Satzes den Anfang schon vergessen hat, kann nie eine Freude an complicirteren rhythmischen Combinationen haben. --
2. Freude am Wechsel der Vorstellungen. Diese ist dem Menschen ganz besonders eigenthümlich; sie kommt in der Schöpfungswelt sonst nur bei hochentwickelten, dem Menschen nahe stehenden, und mit ihm verkehrenden Thieren vor, und fehlt nur bei äußerst trägen, indolenten Menschen.
3. Freude an der Vermehrung der Vorstellungen und des Gedächtnißinhaltes, Freude an der Ueberwindung von Schwierigkeiten.
Neugierde hängt mit den beiden letzten Charaktereigenschaften innig zusammen; sie ist angeboren; kann durch Erziehung zu Wißbegierde und Ehrgeiz entwickelt werden, und bildet eins der mächtigsten Mittel für die Cultur- entwicklung. Ein Mensch, der absolut keine Neugierde, keine Wißbegierde, keine Freude an der Vermehrung seiner Kenntnisse und seiner Leistungen hat — mögen ihm dieselben an und für sich, oder ihrer praktischen Verwerthung wegen besitzenswerth erscheinen — ist überhaupt nicht bildungsfähig, oder hört aus, es zu sein, wenn ihm die erwähnten Eigenschaften verloren gehen. —
Welche große Bedeutung Neuheit und Wechsel des Rhythmus für uns moderne musikalische Menschen im Lauf der Zeiten bekommen hat, davon überzeugt man sich am besten bei längeren Tonstücken, und bei rascher Aufeinanderfolge von Tonstücken, wie sie in der Kammermusik üblich ist, noch mehr bei der Oper. Erscheint uns solche Musik langweilig, und versuchen wir, uns die Ursache einer solchen Langenweile klar zu machen, so werden wir sehr oft finden, daß es eine uns schon allzu bekannte und nicht genug wechselnde Rhythmik ist, die es zu keinem rechten Interesse an dem neuen Stück kommen läßt. Ein Uebermaß im Wechsel der Rhythmen, ein Uebermaß in dem gleichzeitigen Auftreten verschiedener Rhythmen beunruhigt uns wiederum und läßt uns nicht zu rechter Freude kommen. Wir pflegen dann zu sagen: „Ich verstehe diese Musik nicht". Wir geben es dann aus, zuzuhören; der stete Wechsel Wirkt wie Monotonie auf uns H. Die Grenzen zwischen dem angenehmen Maß und dem unangenehmen Uebermaß des Wechsels sind in jeder Zeitepoche und innerhalb dieser in jedem Individuum verschiedene. Sie sind abhängig von dem.
9 „Bunt aneinander Gereihtes ergötzt zwar, doch es ermüdet.
Platen.