Heft 
(1894) 81
Seite
153
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Literarische Rundschau.

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Mit Renan und Taine sind die deutschen Zeitgenossen reichlich vertraut. Ihre Wirksamkeit hat sich bis in die letzten Jahre in Fortsetzung älterer Schriften stets von Neuem in Erinnerung gebracht, und bei Gelegenheit ihres, auch erst vor Kurzem erfolgten Todes hat es an deutschen anerkennenden Gesammtwürdigungen nicht gesehlt. Anders steht es mit Michelet. Er ist schon länger todt (geb. 1798, fi 1874) und niemals in Deutschland so gelesen oder geschätzt worden wie jene beiden Anderen. Das hat auch seine guten, wohlberechtigten Gründe; aber darum ist es gerade an­gezeigt, aus diesen Theil des Inhalts etwas näher einzugehen als auf den übrigen. Was den Studien über alle drei Autoren unter Monod's Feder ihr besonderes Gepräge gibt, ist sein persönliches Verhältniß zu ihnen. Alle drei waren seine Lehrer, seine geliebten und verehrten Lehrer. Dankbarkeit, Pietät und das damit eng verwebte innige Verständniß führen die Hand des Schreibenden. Einem Kammer­diener mögen besonders leicht die Schwächen eines großen Mannes bekannt werden, wiewohl ein guter Kammerdiener auch die guten Eigenschaften seines Herrn besonders gut kennen wird. Geistig ebenbürtige Menschen werden um so anerkennender urtheilen, je näher sie durch vertranten Umgang an einen hervorragenden Mann herantreten. Ich finde denselben Gedanken in der von Monod dem Buche Vor­gesetzten Widmung an einen Freund (Charles de Pomairols) ausgesprochen:Ln xrs- 86NSS cl'bomines 8upsrisur8, In 8)'inpakIÜ6 68t 1a vois 1a p1u8 8Ürs pour oomprsnärs.^

In der Einleitung faßt Monod das letzte Ergebniß seiner Ansicht über die unterscheidenden Merkmale der drei Geschilderten zusammen. Wie er seinem Buche den Haupttitel:Lss mallr68 de l'Lwtoirs" gegeben, so beginnt die Vorrede mit den Worten:Die drei Meister, deren Werke und Leben zu studiren ich mir vor­gesetzt habe, bilden meines Erachtens den Inbegriff des Wesentlichen, das von ge­schichtlicher Arbeit in unserem Lande und Jahrhundert geleistet worden ist (es gu'11 a ä'ssssniisl äa»8 l'osuvrs bwtorigus äs notrs pa^8 st äs notrs sisels"). Man darf wohl annehmen, daß das Jahrhundert auch unter der Begrenzung aus französisches Gebiet gemeint ist; das geht auch schon daraus hervor, daß vergleichs­weise als nahe stehende, doch nicht gleichwerthige, nur Franzosen genannt sind: Augustin Thierry, Guizot, Mignet, Toqueville, Fustel de Coulanges. Die drei Meister theilen sich, nach Monod, in die Gesammtausgabe, welche der geschichtlichen Wissenschaft gestellt sind, wie folgt: Renan's Verdienst gipfelt in der Kritik der überlieferten Darstellung und Auffassung, Taine in der philosophischen Verwerthung, Michelet in der schöpferischen Wiederbelebung.

Der deutsche Leser wird sich vielleicht wundern, in Renan gerade den Kritiker hervorgehoben zu sehen. Auf den Skeptiker wäre er eher gefaßt gewesen; denn was z. B. in seinem Leben Jesu, auch vielfach in den folgenden Bänden über die Apostel, weniger in seinerGeschichte des Volkes Israel" das Augenmerk angezogen, hie und da befremdend gewirkt hat, waren Intermezzos von phantasiereichen Conjectnren. Monod übersieht dies nicht, aber er bringt die beiden Attribute in organische Verbindung, indem er meint, über der kritischen Zerstörung durch den skeptischen Geist erhebe sich aus der Fülle der gesammten wissenden Intuition der Aufbau, der, getragen von Tact, Divination und Kunst, das Zerstörte ersetze. Alles sei in Frage gestellt und dann versucht, die Dinge nach der Einbildungskraft auszubauen. Renan habe zu verstehen gegeben, daß es unendlich abgestuste Grade von Wahr­scheinlichkeit gebe, aber nur ein äußerst eng begrenztes Feld der Gewißheit; der Mensch könne sich subjectiver Imagination nicht enthalten, und, was er sich ein­bilde, enthalte ein Quantum provisorischer und partieller Wahrheit; jedoch liege die Annahme fern, daß Renan sich damit selbst habe täuschen wollen, 11 n'a samuw sIs äuxs pures gu'il a eonssnti ü älrs änps volonwirsinsnt. Man kann die Rettung dessen, was an dem Kritiker Renan etwa unkritisch ist, nicht seiner und liebens­würdiger vornehmen, als dies hier geschieht. Was bei Renan nur zur Ergänzung dienen soll, wird bei Michelet Hauptsache und Berus: die Reconstruction der Ver­gangenheit unter starker Mitarbeit der Phantasie. Ganz aus die entgegengesetzte