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Deutsche Rundschau.
Seite wird Taine gestellt, der danach trachtet, die Geschichte zu einer exacteu Wissenschast zu machen, nur mit den aus dem Gewirre der subjectiven Ueber- lieserungen heraus mikroskopirten reinsten Thatsachen zu arbeiten, allerdings um von den Resultaten dieser Untersuchung wieder zu philosophischen Urtheilen zu gelangen. Ob nicht diese philosophischen Niederschläge wieder einen stark subjectiven Beigeschmack bekommen? Monod meint, es sei das hervorragendste Verdienst von Taine, daß er die Begriffe von Wissenschast und Philosophie identificirt habe. Er gibt allerdings zu, daß niemals die Geschichte eine Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes werden könne, aber je mehr sie der von Taine gefaßten Auffassung entspräche, desto mehr würde sie sich dem Begriffe der Wissenschaft nähern.
Jules Michelet ist jedenfalls schon darum in Deutschland weniger als Taine und Renan bekannt, weil er schon länger todt ist. Er starb im Jahre 1874. Während die beiden Anderen bis zu ihrem in die neuesten Zeiten fallenden Lebensende ihre Publicationen fortsetzten und auch bei uns die Aufmerksamkeit in hohem Maße aus sich lenkten, fällt der Höhepunkt von Michelet's Wirksamkeit und Einfluß in die Periode der Julimonarchie. Zwar hat auch er bis zuletzt nicht ans- gehört zu schreiben, aber lenkten seine päteren Publicationen schon nicht mehr die französische Lesewelt mit der früheren Anziehungskraft aus sich, so versagt diese bei uns fast gänzlich. Auch in den Tagen seiner größten Popularität reflectirte sich diese nur in bescheidenem Maße aus Deutschland. Ich glaube nicht, daß seine besten Bücher, die historischen, jemals in Deutschland viel Beachtung gefunden haben, und das erklärt sich auch ganz gut aus ihrem Charakter. Sie sind wenig für oeutschen Geschmack geeignet. Die Beimischung von Phantasie zu den thatsächlichen Schilderungen ist zu stark. Wir haben zwar den historischen Roman in neuerer Zeit bei uns von bemerkenswerthem Erfolg gekrönt gesehen; aber wenn der Deutsche in seinem Wissenstrieb sich gerne den dichterischen Erfindungen zuwendet, aus denen er im Spazierengehen auch Etwas zu lernen hofft, so hält er sich umgekehrt, wenn er sich einmal aufs Studiren legt, den Roman dabei lieber vom Halse. Wir haben freilich in der neueren Zeit an tendenziösen Historikern leider keinen Mangel, aber an phantastischen glücklicherweise keinen Vorrath. — - Wie ich aus meiner eigenen Erinnerung der Jugendjahre mich besinne, wurden bei ihrem Erscheinen am meisten diejenigen von Michelet's Werken bei uns gelesen, welche die religiösen Fragen behandelten, insonderheit den Kamps gegen die Jesuiten (1848). Es begann damals in Deutschland jene Bewegung des Neukatholicismus, Rouge und Czerski an der Spitze, welche die Vorläuferin der politischen Bewegung war, und an Michelet's im Bunde mit Edgar Quinet unternommenem Feldzug gegen die Gesellschaft Jesu einen kräftigen Bundesgenossen fand. Viel weniger drang er mit einer anderen umfangreichen und tiefer angelegten Arbeit zu uns, welche gewiß nicht minder verdient hätte, in Deutschland Interesse zu erwecken. Gerade in der Periode seiner tüchtigsten Leistungen beschäftigte ihn in hohem Grade die Geschichte der Reformation. Er reiste nach Deutschland, um sie an der Quelle zu studiren, und widmete ihr und der Person Luther's mehrere Bände, übersetzte auch dessen Tischreden. Welche Wandlungen Michelet in seiner halbhundertjährigen Schriftsteller- und Gelehrtenlausbahn durchgemacht habe, er war von Anfang bis zu Ende ein begeisterter Kämpfer für freies Denken. Sein Jugendwerk war die Übersetzung von Vico's Geschichtsphilosophie. Dieser Zug führte ihn zu lebhafter Sympathie mit Deutschland, die — eine seltene Ausnahme — später auch der großen Entzweiung des Jahres 1870 widerstand. Er war mit manchem hervorragenden Deutschen befreundet. Große Stücke hielt er aus Jacob Grimm, den er für den vollendeten Typus des Gelehrten erklärte. Monod schreibt: „Nach dem Krieg von 187(ft zerschmettert von der Härte, welche die Deutschen im Siege gezeigt hatten, sagte er zu mir: Wenn Grimm noch am Leben wäre, hätte er sicherlich im Namen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit protestirt; aber es gibt keine Grimm's mehr in