Heft 
(1894) 81
Seite
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Literarische Rundschau.

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Deutschland." Monod fügt hinzu:Ich bezweifle meinerseits sehr, daß Grimm protestirt hätte." Ebenso berichtet Karl Hillebrand in seiner, Michelet ge­widmeten Studie (Wälsches und Deutsches") von der Freiheit des Urtheils, die Michelet sich nach der Katastrophe bewahrt, obwohl sie ihm, so viel wie nur irgend Einem, recht eigentlich das Herz gebrochen hatte. (Bei der Nachricht von der Capitulatwn von Paris traf ihn ein Schlaganfall.) In Florenz, wo beide nach dem Kriege lebten und mit einander verkehrten, äußerte Michelet einmal zu Hille­brand:Der ganze Krieg sei nur ein Mißverständniß gewesen." Ich selbst habe ihn nach dem Kriege nicht mehr wiedergesehen, aber in den sechziger Jahren ver­kehrte ich des öfteren mit ihm in einem literarischen Salon. Er war damals schon ein von Ruhm gesättigter alter Mann mit jugendlicher Beweglichkeit, dem seine zweite, viel jüngere, hübsche Frau, seine schriftstellerische Mitarbeiterin, als lebendiger Kommentar zur Seite stand. Noch erinnere ich mich eines Gesprächs, das wir über Elsaß hatten. Damals ahnte zwar noch Niemand, wie praktisch die Frage nach wenigen Jahren werden sollte, aber das Vorgefühl des kommenden großen Zweikampfes lag doch schon lange in der Luft. Michelet rühmte die gute französische Gesinnung der Elsässer. Ich antwortete ihm:Das beweise nur um so mehr, wie echte Deutsche die Elsässer seien, denn nur Deutsche vermöchten sich so in eine fremde Nationalität hineinzuleben." Er ließ sich lächelnd die Auslegung gefallen. Als der Krieg ausbrach, gehörte Michelet zu den Wenigen, die, wie Monod sagt: öffentlich gegen den eitlen und brutalen Chauvinismus protestirten, zu dem sich seine Landsleute sortreißen ließen" . . .Die Scherkraft des Historikers" so fährt Monod fortund sein tiefer Gerechtigkeitssinn ließen ihn den Ausgang des Krieges voraussehen. Er hatte Wohl ein Recht daraus, Gehör zu finden, er, der sein ganzes Leben lang die Religion des Patriotismus gepredigt hatte. Seine Stimme verlor sich im Tumult, und am 16. Juli schrieb er mir die prophetischen Worte:Die Ereignisse haben sich überstürzt . . . das Verbrechen ist geschehen. Europa wird interveniren, aber nicht rasch genug, als daß nicht vorher ein namen­loses Elend über uns komme."" Monod bemerkt dazu noch:Er betrog sich nur in einem Punkt, der europäischen Intervention." In diesem Jrrthum begegnete sich Michelet bekanntlich mit Thiers, der, gleich ihm, gegen den Krieg gesprochen hatte, aber freilich nur als es zu spät war, während er ihn von langer Zeit her hatte schüren helfen. Welche zwei verschiedene Figuren, und doch in so manchem Punkte übereinstimmend. Thiers war französischer Patriot in der einseitigsten, man könnte, trotz der hohen Klugheit des Mannes sagen, bornirtesten Weise. Er fand es ganz natürlich, daß Italien und Deutschland dem Bedürsniß der französischen Sicherheit, die er mit ihrer Einigung nicht für verträglich hielt, geopfert würden. Michelet, ganz Humanitarier, huldigte dem Ideal, die Gluth des Patriotismus mit dem Geist der allgemeinen Brüderlichkeit zu vereinigen, wie es auch einmal im Anfang der von ihm idealisirten Revolution verkündigt worden war. Aber schon damals zeigt sich die Verbindung nicht haltbar. Im Jahre 1848, als Michelet mit so vielen Anderen, auch unter uns jungen Deutschen, die wahre Erfüllung der revolutionären Ideale Heranbrechen sah, erschienen ihm die Fahnen aller ihm theuren Nationalitäten schon künftig zusammen verbunden:Tom los äraxeaux äes uatiom, le trieolore vert cl'Italie (Italia mater), l'aigle blaue cle llologus (gui 8aigua taut pour uous!), le grauä äraxeau äu 8atnt - blmpire, cle ma obere ^.llemague, uoir, rouge et or!"

Stehe, Wanderer, und trauere über die Vergänglichkeit der menschlichen Denkweise!

Michelet hatte nicht als Historiker begonnen. Die ersten Studien und Lehr­tätigkeiten gehörten der Philosophie. Erst später erkannte er seinen wahren Beruf. Sein Lebenswerk ist ein gewaltiges. Fünfzig Bände hat er hinterlassen, sehr ver­schiedenen Kalibers, aber ein großer Theil davon genährt und getragen von eifriger,