Tie Reform der preußischen Agrarverfassung und die Berliner Konferenz.
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Aus den Debatten über das Anerbenrecht verdienen folgende Punkte hervorgehoben zu werden. Das Wesen desselben besteht, wie bereits oben angedeutet wurde, darin, daß zwischen der Succession in das Gut und in den Werth desselben unterschieden wird. Wahrend in das Gut selbst nur einer unter mehreren, dem Erblasser nach gemeinem Rechte gleich nahe stehenden Erben, der sogenannte Anerbe, succedirt, theilen sich die sämmtlichen Anerben in den Werth des Gutes. Die Art, wie diese Theilung zu geschehen hat, bildet nun aber eine große Schwierigkeit. Der Anerbe wird nur so viel abgeben wollen, daß er bestehen kann, und seine Miterben werden wünschen, möglichst hohe Antheile zu erhalten. Daß der Conflict nur aus dem Boden des Ertragswerthes gelöst werden darf, gilt jetzt als communis opiuio, und daß der Erbe ein Voraus zu erhalten hat, sei es in einer unter den Ertragswerth herabgehenden ermäßigten Taxe (verhülltes Voraus), sei es in der Form eines offenen praeeipuum, ist vom Standpunkte wirthschastlicher Gerechtigkeit gegenwärtig leichter zu begründen, als vor dem Ausbruch der letzten Krisis. Heute konnte das Voraus in der Conferenz ohne Widerspruch bezeichnet werden als eine Risieoprämie, die der Anerbe empfange für die mannigfachen unübersehbaren Fährlichkeiten, welche ihn als Besitzer treffen können und, dürfte man hinzusügen, als Entschädigung dafür, daß seine Miterben in Zeiten äußersten Noth eine Zufluchtstätte bei ihm finden werden. Um zu verhüten, daß der Anerbe das Voraus nicht zu seinem egoistischen Vortheil durch alsbaldigen theuren Verkauf des zu einer mäßigen Taxe angetretenen Anerbengutes mißbrauche, wurde die Generalisirung der Bestimmungen befürwortet, die in der Ordnung des für die mecklenburgischen Domanialpächter geltenden Erbrechts enthalten sind: daß während der Frist von zehn Jahren nach geschehener Gutsübernahme durch den Anerben seine Miterben ein Vor- oder Rückkaufsrecht und, wenn sie von demselben keinen Gebrauch machen, nach Analogie des Anhanges Z 79 zu ß 648 des russischen Allgem. Landrechts II, I einen zu begründenden Anspruch aus das sogenannte Surplusreservat erhalten.
Gegenüber dem häufig gebrauchten Argument, daß die Geschwister des Anerben sich als Enterbte fühlen und die Classe der Socialdemokraten vermehren würden, bemerkte ein Mitglied der Conferenz, Geh. Rath vr. Thiel, man könne es ruhig auf die Probe ankommen lassen, „wer mehr Neigung zur Socialdemokratie haben wird: die in guten Verhältnissen ausgewachsenen Kinder eines Anerben, welche eine gute Ausbildung und Erziehung genossen haben, selbst wenn ihr Erbtheil ein nur verhältnißmäßig kleines ist, oder die Kinder eines wegen Mangel eines Anerbenrechts durch Schulden erdrückten, in steter Sorge und Noth lebenden Besitzers". Die bisherige Erfahrung zeigt, daß die Socialdemokratie sich viel mehr aus den Familien der in Verfall ge- rathenen kleinen Gütler, als aus stattlichen Bauernhöfen mit einer aufrecht stehenden Bevölkerung recrutirt.
Uebrigens sollen in Zukunft nach einem von mehreren Seiten gemachten Vorschläge, entsprechend der Rodbertus'schen Auffassung, die Miterben mit Renten abgesunden werden; nur wenn einer unter ihnen es verlangt, soll durch