Erinnerungen an August Mariettc.
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Ecken der ungeheueren Anlage nicht unbesucht und ununtersucht lassen wollten. Gegen Abend sanden wir unsere Erholung aus der Terrasse, die, nach Norden gelegen, eine weite Aussicht über das grüne Nilthal zur Rechten bis nach Kairo hin und zur Linken über die Wüste bis zu den großen Pyramiden von Giseh gestattete. Das Leben zweier Menschen in der Einsamkeit einer Wüstenei, besonders in der Jahreszeit des heißen Sommers, bindet die Seelen sester an einander, der Gedankenaustausch wird ein innigerer, und das Gewöhnen an einander bildet eine Art von Familienband. Selbst in unseren späteren Jahren, da ich mich als Eonsul und später als ägyptischer Beamter in Kairo niedergelassen hatte, verging kein Tag, ohne daß wir uns ausgesucht und gesehen hätten. Trennten uns Reisen nach Europa, so trat eine regelmäßige Korrespondenz ein, die in jedem einzelnen Falle mit dem schriftlich ausgesprochenen Wunsche nach einem baldigen Wiedersehen schloß. Unsere Freundschaft wuchs in dem Maße, als unser Lebenslaus in jeder Beziehung einen gleichen Gang genommen hatte. Wir hatten beide früh geheirathet, besaßen zahlreiche Kinder, daneben unsere Beschützer und Verfolger und hatten beide in Aegypten eine Zufluchtsstätte gefunden. Die Briefe, welche ich in einem so langen Zeitraum chon Mariette empfangen habe, enthalten Geständnisse und Mittheilungen einer Freundesseele, die sich an den Freund richtet, im Glück freudige Theilnahme und im Unglück Trost sucht. Wenn ich die Sammlung heute durchblättere, so empfinde ich es mit Rührung, wie heute ein Todter zu mir spricht, und mit Trauer, daß meine Antworten ihre Adresse nicht mehr erreichen. Mariette's Briefe bilden in ihrem Zusammenhänge eine Art Biographie, in welcher der Schmerz über Enttäuschungen eine breite Stelle einnimmt.
Aber diese Enttäuschungen führte er selber auf seine mangelhaften Kenntnisse in der Entzifferung hieroglyphischer Texte und sein Unvermögen zurück, sich in den altägyptischen Geist hineinzudenken. Ost gestand er es mir, und nicht bloß in schwachen Stunden, wie sehr er fühle, daß seine Laufbahn eine verfehlte sein müsse, da er in sich nur Anlagen finde, die ihn für die Kunst oder für schöngeistige literarische Arbeiten befähigten. Tatsächlich besaß Mariette einen ausgeprägten künstlerischen Geschmack, der in seinen farbigen Zeichnungen zu Tage trat, und war ein Meister im Stil, dem die dichterische Begabung im höchsten Maße zu eigen. Es ist mir nicht im Geringsten zweifelhaft, daß Mariette, wäre er nicht den alten Aegyptern verfallen gewesen, ganz Ausgezeichnetes als französischer Schriftsteller ersten Ranges geleistet haben würde. Seine Phantasie war lebendig und jeder poetischen Anregung zugänglich. Es dürfte Wenigen bekannt sein, daß er auf den Wunsch des Vicekönigs von Aegypten, der zur Zeit der feierlichen Eröffnung des Suezkanales seine Gäste durch eine neue Oper überraschen wollte, das Libretto zu Verdi's „Aida" versaßt hat. Und trotz alledem gehörte Mariette zu den größten Kennern des ägyptischen Alterthums, das er liebte, wie ein Jüngling seine schöne Braut. Er hatte außerdem eine so genaue Kenntniß der Wüste und des ägyptischen Erdbodens gewonnen, daß eine kurze Prüfung seinerseits genügte, um das Vorhandensein verborgener Denkmäler sofort voranszusageu.
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