Politische Rundschau.
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Marineossiciere veranstalteten Festen bei, so daß er Augen- und Ohrenzeuge des Enthusiasmus wurde, mit dem die Pariser Bevölkerung eine neue Aera zu begrüßen schien. Wie hoch gingen damals die Wogen der Begeisterung, wahrend heute sicherlich Manchem sich die resignirte Frage des Dichters Franyois Villon ausdrängen mag: „Naw oü soat le« neigos ä'antan?" „Wo ist der Schnee vom vorigen Jahr?" Allerdings hatten schärser sehende und nrtheilende Politiker jenseits der Vogesen bereits vor der Erkrankung des Zaren deutlich erkannt, daß dieser keineswegs gewillt sei, sich in das Schlepptau der Revanchepolitik nehmen zu lassen. Damit stand wohl auch die unleugbare äötente im Zusammenhang, die in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland in erfreulicher Weise eingetreten ist. War aber in allen durch den Chauvinismus nicht verblendeten politischen Kreisen längst bekannt, daß Kaiser Alexander III. von durchaus sriedlichen Gesinnungen beseelt ist, so muß nunmehr auch den Anhängern der früheren „Patriotenliga" in Frankreich einleuchten, daß mit Rücksicht ans das Leiden des Zaren in absehbarer Zukunft kriegerische Verwicklungen von russischer Seite sicherlich nicht drohen. Andererseits wird sich jetzt gerade zeigen, auf einer wie sriedlichen Grundlage der Dreibund beruht, so daß die Ausrechterhaltung des europäischen Friedens mehr als jemals gesichert erscheint.
Um so mehr überraschen mußte daher die Aufregung, mit der in der Presse jüngst die plötzliche Einberufung des englischen Ministerrathes erörtert wurde. Allerdings befanden sich einige Mitglieder des Cabinets Roseberh im Auslande ans Urlaub; allein aus der Ankündigung eines Ministerconseils durste nicht ohne Weiteres geschlossen werden, daß in der That zwischen England und Frankreich ernsthafte Complicationen zu befürchten ständen. An Muthmaßungen in diesem Zusammenhänge fehlte es nicht; bald sollte Siam, bald Madagascar, bald Aegypten die Veranlassung des drohenden Conflictes sein. Bei ruhiger Betrachtung mußte man aber sogleich erkennen, daß der gegenwärtige Zeitpunkt, in dem im äußersten Oriente Chinesen und Japaner mit einander um die Vorherrschaft zu ringen scheinen, schlecht gewählt wäre, um in Siam verhältnißmäßig untergeordnete Streitfragen aufzubanschen. In Madagascar, wo die Franzosen mit Recht der Hovasregierung gegenüber ihre eigenen Ansprüche geltend machen, muß zunächst abgewartet werden, welchen Erfolg die Mission des mit den madagassischen Verhältnissen wohlvertrauten Abgeordneten Le Myre de Vilers haben wird. Davon erst wird es abhängen, ob eine Expedition gegen die Hovas nothwendig ist. Unzweifelhaft dürfen aber die Schwierigkeiten einer solchen nicht unterschätzt werden, so daß für die Engländer vorläufig keine Veranlassung vorläge, eine Einmischung zu versuchen, die von der öffentlichen Meinung Europa's, ja im eigenen Lande kaum gebilligt werden würde. Was endlich Aegypten betrifft, so hat sich in jüngster Zeit nichts ereignet, was eine Veränderung in den dort bestehenden geordneten Verhältnissen angezeigt erscheinen ließe. Die englische Verwaltung hat sich in Aegypten vortrefflich bewährt, und wenn die Auseinandersetzung mit Madagascar unbedenklich den Franzosen überlassen werden darf, so könnten diese wiederum keinen Rechtstitel anrufen, falls sie plötzlich eine ägyptische Frage aufwerfen wollten. Daß die französische Regierung den Engländern den maßgebenden Einfluß in Aegypten überließ, war lediglich ihre Schuld; mit Fug wird nur auch in Zukunst daran festgehalten werden müssen, daß der Suezkanal allen Nationen offen steht. Von französischer Seite ist aber thatsächlich in jüngster Zeit die ägyptische Angelegenheit osficiell gar nicht angeregt worden, während die Betrachtungen der Pariser Blätter sich lediglich in dem alten Geleise bewegten.
Der englische Ministerrath hat sich denn auch in seiner kurzen Sitzung weder mit Siam noch mit Madagascar, noch mit Aegypten, sondern mit dem chinesisch- japanischen Conslicte beschäftigt und die Absendung weiterer Kriegsschiffe nach den ostasiatischen Gewässern beschlossen. England wird nach wie vor, gleich den übrigen europäischen Mächten, die volle Neutralität bewahren; allein das Cabinet Rosebery