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Deutsche Rundschau.
kann sich nicht der Wahrnehmung verschließen, daß insbesondere in China der bisherige Verlaus des Krieges eine hochgesteigerte Erregtheit hervorgernsen hat, die es nothwendig erscheinen läßt, zum Schutze der nach früheren Erfahrungen bedrohten Europäer umfassende Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Hierzu kommt, daß das durch die bis jetzt errungenen Siege hervorgerufene Selbstbewußtsein der Japaner später eine Situation schassen könnte, die den Einspruch der europäischen Mächte oder einiger von ihnen verursachen würde. In dieser Beziehung braucht nur darauf hingewiesen zu werden, daß Rußland selbst nicht ruhig zusehen würde, falls Japan das ausschließliche Protectorat über Korea ausübeu wollte. Wenn daher die Seemächte Panzergeschwader oder einzelne Kriegsschiffe nach den ostasiatischen Gewässern entsenden, so dürfen darin keine besorgnißerregenden Symptome erblickt werden; vielmehr gilt es eben nur, für alle Eventualitäten im Voraus gesichert zu sein, sowie den in China lebenden Europäern Schutz zu gewähren. Wird doch mit Recht hervorgehoben, daß die chinesische Bevölkerung, die in normalen Zeiten bereits die Fremden mit Mißgunst betrachtet, jetzt nach den zu Wasser und zu Lande erlittenen Niederlagen sich zu groben Ausschreitungen gegen Europäer Hinreißen lassen könnte, in dem Gefühle, daß Japan seine Erfolge im Wesentlichen der europäischen Schule verdanke. Daß es den Chinesen sreigestanden hätte, selbst aus den verschiedenen Culturgebieten, sowie in der Kriegskunst und im Marinewesen sich sortzubilden und zu entwickeln, wird von der großen Masse der Bevölkerung im „Reiche der Mitte" kaum verstanden werden. Die „chinesische Mauer" hat insofern auch eine symbolische Bedeutung, als dort dem Eindringen jedes Fortschrittes Halt geboten wurde. Weiter schauenden Politikern erscheint deshalb als eine mit Sicherheit zu erwartende Folge des Zusammenpralls der verfeinerten Civilisation Japans mit der zurückgebliebenen Cultur China's dessen Bekehrung zu mehr modernen Anschauungen.
Darf aber daran sestgehalten werden, daß Japan, indem es den friedlichen Rathschlägen der Vertreter der europäischen Mächte vor der Eröffnung der Feindseligkeiten nicht Rechnung trug, eine große Verantwortlichkeit übernommen hat, so gereicht andererseits zur Beruhigung, daß Rußland, England, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika als die indirect am meisten betheiligten Länder eine durchaus correcte Haltung beobachten. Hätte es zunächst den Anschein gewinnen können, als ob eine Gruppirung der Mächte in der Weise stattfinden würde, daß Rußland und Frankreich sich aus die Seite Japans stellten, so ist bereits betont worden, daß Rußland, sobald erst die sibirische Eisenbahn in ihrer ganzen Ausdehnung vollendet sein wird, auf Korea besondere Interessen zu verfolgen geneigt sein muß. Frankreich seinerseits würde durch eine offene Parteinahme für Japan unverzüglich bewirken, daß in Tonking die „schwarzen Flaggen", die der französischen Oecupation die größten Schwierigkeiten bereiteten, in ausgedehntem Maße wieder ihr Unwesen trieben und die Unterstützung der chinesischen Regierung fänden. Ueberdies ist Frankreich gerade in Colonialangelegenheiten augenblicklich zur Genüge beschäftigt, so daß auch von dieser Seite der Grundsatz der Nichtintervention kaum verletzt werden wird.
So ergibt sich das eigenartige Schauspiel, daß, während im äußersten Oriente Alles von Waffen starrt, und Panzerschiffe der Mehrzahl der Großmächte zur Observation eingetroffen sind, in Europa gerade das entgegengesetzte Bild sich darbietet. Nur die Vorgänge in dem ungarischen Delegationsausschusse hätten den Anschein erwecken können, daß es auch am politischen Horizonte Europas nicht an schwarzen Punkten fehle. Wurde es in dem österreichischen Budgetausschusse dem gemeinschaftlichen Minister des Auswärtigen, Grafen Kalnoky, nicht allzu schwer, die gegen den Dreibund von tschechischer Seite abermals erhobenen Anschuldigungen zu entkräften, so mußte der leitende Staatsmann im ungarischen Delegationsausschusse sich derselben Ausgabe unterziehen sowie über die gesammte Führung der auswärtigen Angelegenheiten Rechenschaft ablegen. Obgleich die Beziehungen zu Rumänien einen breiten Raum in diesen Erörterungen der allzu empfindlichen