Heft 
(1894) 81
Seite
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Deutsche Rundschau.

NUN eine unerwartete Aenderung dadurch, daß Ihre Majestät die Kaiserin den erlauchten Gemahl begleitete. Die Anwesenheit der hohen Frau an Bord der Jacht übte einen stillen Zauber aus. dessen Wirkung ein Jeder empfand; ihm ist es zuzuschreiben, daß die Nordland-Fahrt des Jahres 1894 schönere Erinnerungen hinterließ, als irgend eine zuvor. So ist denn das Gefühl der Dankbarkeit der Impuls geworden für den vorliegenden Aussatz. Derselbe soll nicht nur das Leben an Bord schildern, sondern auch einen Theil der norwegischen Landschaften, zu welchen der Deutsche Kaiser unsere Kaiserin geleitete.

Die innere politische Lage des Landes hatte es im Sommer 1893 dem Kaiser unmöglich gemacht, die nöthige Zeit für eine vierwöchentliche Reise nach Norwegen zu gewinnen. Dieselbe siel aus und wurde durch Kreuzer-Touren ersetzt, welche während der zweiten Hälfte des Juli von Kiel aus zunächst nach der schwedischen Insel Gotland führten, und dann nach Tullgarn, der Sommer-Residenz des Kronprinzen von Schweden und seiner Gemahlin. An der, kaum acht Tage umfassenden Fahrt nahm auch die Kaiserin Theil, und diesem Umstand war es zu verdanken, daß die Frauen und Mädchen von Visby eine Art von Aufführung veranstalteten, welche wir sonst Wohl nicht gesehen hätten.

Visby, die Hauptstadt von Gotland, war im Mittelalter ein berühmter Handelsplatz der Hansa. Die verschiedenen, daselbst vertretenen Nationalitäten, Stämme und Städte errichteten in ihr eigene Kirchen, fünfzehn an der Zahl. Vierzehn davon liegen jetzt in Trümmern, die aber zum Theil so Wohl erhalten sind, daß ihr Anblick einen ehrwürdigen und weihevollen Eindruck hinterläßt. Der Eindruck ist um so stärker, als wir im hohen Norden so gar nicht an große Ruinenstätten gewöhnt sind- Man sieht die zusammengeschrumpfte Stadt, für welche die thürmetragende, sestungsartige Ringmauer viel zu mächtig geworden ist, und blickt auf Bäume und Gärten, denen Mauerreste als Ein­friedigung dienen. Das Meer liegt nahe, und nach der anderen Richtung dehnt sich das Plateau der Insel, nicht gerade öde, aber doch auch nicht heiter. Warum sollte man nicht an Syracus denken, ins Nordische übersetzt, ins Mittelalterliche?

Die Majestäten begaben sich mit dem Gefolge am achtzehnten Juli an Land und statteten den vier schönsten und besterhaltenen Kirchen einen eingehen­den Besuch ab. Außer der Dom- oder Marien-Kirche, welche allein noch im Gebrauch ist, waren es die St. Nicolas-, die Heiliggeist- und die Katharinen- Kirche. Ihre Erbauung fällt in das dreizehnte Jahrhundert; der Spitzbogenstil herrscht vor.

Noch am Abend desselben Tages erfolgte ein zweiter Besuch, der sich ans zwei Ruinen beschränkte. In der einen, es War die Kirche von St. Lars (Laurentius), fand eine Art kirchlicherFantasia" statt: von dem gras­bewachsenen Boden des Langschiffs, Wo für die Majestäten Sitze hergerichtet Waren, sah man, wie die oberen Wandelgänge der Ruinen sich belebten; Nonnen,