Heft 
(1894) 81
Seite
357
Einzelbild herunterladen

Tie Nordlandreise des Deutschen Kaiserpaares im Jahre 1894.

357

in Weiße Gewänder gehüllt, erschienen, brennende Lichter tragend, und zogen schweigend dahin, während fromme Gesänge ertönten. Bald verschwanden die lichten Gestalten hinter den dicken Mauern, bald tauchten sie wieder aus, ein­gerahmt von den Profilen der Bogenfenster. So zogen sie hin und her, zu­weilen zwei Reihen bildend, die in entgegengesetzten Richtungen dahin schwebten. Im Dämmerlicht lag der Rest der Kirche da, ihres Charakters als Ruine gleichsam entkleidet, und nur die leuchtenden Sterne über dem eingestürzten Dach verkündeten die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Das merkwürdige Schauspiel endete mit dem Verschwinden des letzten Lichtes, mit dem Ersterben des letzten Tones. Lautlos verharrte die dicht­gedrängte Menge in der Dunkelheit, und erst als der Kaiser und die Kaiserin sich erhoben, wurde es wieder lebendig.

Die Majestäten und alles Volk begaben sich nunmehr zu der relativ Wohl erhaltenen Katharinen-Kirche. Hier war ein Podium aufgeschlagen für die hohen Gäste und deren Gefolge. In angemessener Entfernung davon hatte ein Sängerchor Ausstellung genommen. Ich glaube, daß es nur in Schweden möglich ist, eine so große Zahl schöner und sanggerechter Stimmen zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen, wie es hier der Fall war. Denn schließlich entspricht die Bevölkerung Visbh's derjenigen unserer kleinen Mittel­städte. Höchstens Italien könnte dasselbe leisten; aber dort gibt es so viele professionelle Sänger, die aller Orten auftreten, daß die Dilettanten über dem Zuhören gar nicht zum Singen kommen.

Die schwedischen Sänger ließen uns viele ihrer nationalen Lieder hören, zu deren Melodie und Tonart die ehrwürdigen Ruinen recht Wohl paßten. Der Kaiser sprach sich sehr befriedigt über die dargebotenen Leistungen aus, und erst zu später Stunde kehrten die Majestäten an Bord derHohenzollern" zurück.

II.

Ein Jahr später unternahm die neu erbaute Pacht ihre erste Fahrt in das Schärengebiet des norwegischen Küstenmeeres. Beide Majestäten befanden sich an Bord und begannen die Nordland-Reise, am zweiten Juli 1894, von Kiel aus.

Der südliche Theil der norwegischen Westküste wurde nach einer glück­lichen Fahrt erreicht; und wie fünf Jahre zuvor, wo der Kaiser zum ersten Male Norwegen sah, so liefen wir auch diesmal die Stadt Stavanger als ersten Ort an. Hier befanden wir uns, sozusagen mit einem Schlage, mitten in Norwegen, trotz der Küste.

Denn was Italien an untrüglicher Charakteristik durch seine Bewohner und seine Wohnstätten leistet, das leistet Norwegen durch seine Landschaft. Zwar kann man nicht kurzweg von einer einzigen norwegischen Landschaft sprechen, Wohl aber von einigen Typen, deren jeder dem Kenner, auch wenn man ihn mit verbundenen Augen hineinversetzt hätte, das Land verräth. Freilich will eine solche Kenntniß durch Anschauung, nicht aus Büchern er­worben sein.