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Deutsche Rundschau.
Elektricität, wie denn Prochaska ohne Weiteres das Leben einen galvanischen Proceß nennt. ^ „Die Mythen von imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus verwickeln und trüben die Ansicht der Natur" — sagt im Kosmos Alexander von Humboldt, ^ der in der Jugend selber in diesen Wahnvorstellungen besangen gewesen war, und sie sogar in dem Apolog vom Rhodischen Genius für Schiller's Horen poetisch verklärt hatte. Nur kurze Zeit darauf machte er in seinem Werk über die gereizte Muskel- und Nervenfaser auf eine noch heute lesenswerthe lichtvolle Auseinandersetzung Vicq-d'Azyr's aufmerksam,^ wodurch, wie man meinen sollte, die Lebenskraft für immer aus der ernsten Wissenschaft hätte verbannt werden können, o Zwar eröffnete noch Reil sein „Archiv für die Physiologie", welches bald sein hundertjähriges Jubiläum feiern wird, mit einem gewichtigen Artikel über die Lebenskraft, doch sieht er verständig genug in ihr nur den Ausdruck der Form und Mischung der Materie in den Lebewesen.^ Gleichzeitig suchte Brandts in einem eigenen Buche die Lebenskraft zu dem, wie er es nennt, phlogistischen Proceß in der thierischen Faser, d. h. der Athmung, in Beziehung zu setzen. 2 Blumenbach sprach dem Blute Lebenskraft ab, dagegen schrieb er dem, was wir heute die verschiedenen Gewebe nennen würden, verschiedene Lebenskräfte zu. ^ Die unermeßlichen Aufgaben, welche damals in Frankreich der Forschung durch Cuvier in der vergleichenden Morphologie, durch Bichat in der Histiologie gestellt wurden, während in Deutschland die Geisteskrankheit der falschen Naturphilosophie traurige Verheerungen anrichtete, lenkten dann Wohl längere Zeit von dem Streit über Vitalismus und Mechanismus ab, wenn sie nicht ersterem von vorn herein ein siegreiches Uebergewicht sicherten. Nur in Magendie erstand noch ein schneidiger Antivitalist." Wir lassen nichts Wesentliches aus, wenn wir jetzt sofort zu Johannes Müller's auch in dieser Richtung bahnbrechender und grundlegender Thätigkeit übergehen.
Als er nach Ablauf seiner subjectiv-physiologisch-philosophischen Periode als objectiver Forscher ersten Ranges auftrat und durch sein gewaltiges Handbuch der Physiologie sich als Herrscher auf diesem Gebiet ankündigte, stellte er sich zugleich unverhohlen an die Spitze der entschiedensten Vitalisten. Ja, wie ich es früher schon einmal in meiner Gedächtnißrede ansführte, ^ er erwarb sich auch hier ein charakteristisches Verdienst, indem er die Vorstellung der Lebenskraft, wie man sie sich zu denken habe, wenn sie das ihr Zugeschriebene sollte vollbringen können, so scharf durchdachte und ausgestaltete, daß er Denen den wesentlichsten Vorschub leistete, die berufen waren, das von ihm hingestellte Trugbild zu entlarven.
Die Lebenskraft War ihm die einheitliche Ursache und der oberste Ordner aller Lebenserscheinungen, wesentlich verschieden von den anorganischen Kräften, mit denen sie jedoch in Conslict geräth. Alle Geheimnisse der Physik und Chemie waren ihr von Anfang an enthüllt, so daß sie dem Wunderbau der Sinnes- und Bewegungs-Werkzeuge, des Athmungs-, Verdauungs- und Genital-Apparates, mit einem Worte, der Organisation, gewachsen war. Sie kannte das Brechungsgesetz vor Snell, den Luftdruck vor Torricelli, den elek-