Ueber Neo-Vitalismus.
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irischen Schlag vor Kleist und Musschenbroek, die Vierwerthigkeit des Kohlenstoffes vor Kekulö, die Obertöne vor Helmholtz. Sie schuf alle Thierspecies nach einem unendlich umfangreichen, auf das Feinste gegliederten Plane, so zwar, daß in allen Thieren derselben Art die Lebenskräfte im Einverständniß handeln, in denen verschiedener Art ihre Wirkungen nie sich verwirren. Trotz der Stahl'schen Seele besorgt sie alle Entwicklung, als Naturheilkraft alle nöthigen und möglichen Ausbesserungen des kranken oder verstümmelten Körpers. Einen bestimmten Sitz im Körper hat sie nicht; sie ist überall zugegen und wirkt aus keinen bestimmten Punkt. Sie bemächtigt sich der eingeführten Nahrungsmittel, belebt die belebungsfähige Materie, die dadurch selber Sitz von Lebenskraft wird, und stößt die Materie wieder von sich, welche aufgehört hat, für Lebenszwecke tauglich zu sein, denn die Belebbarkeit der Materie ist begrenzt. Wozu dieser Stoffwechsel diene, bleibt unerklärt. Wie dem auch sei, im Weizenkorn aus der Mumienhand wie im vertrockneten Räderthier, im Scheintod wie in der Narkose ist die Lebenskraft latent; im Tode verschwindet sie spurlos, den physischen und chemischen Kräften das Feld räumend, da dann der Graus der Fäulniß Platz greift, dem während des Lebens nur sie wehrte. Bei der Zeugung aber, was das Merkwürdigste ist, geht sie über auf den Keim des neuen Geschöpfes, ohne daß die Erzeuger etwas davon einbüßen, und da die Abkömmlinge eine ins Unendliche divergirende Reihe bilden, ist sie also ohne Schwächung in unendlich viele gleichwertige Theile theilbar.
Zu den gewöhnlich aufgezählten Unterschieden zwischen der organischen und der anorganischen Natur fügte Müller noch einen seiner Meinung nach grundlegenden hinzu in der Bemerkung, daß in der anorganischen Natur ein Körper dem anderen Bewegung mittheile — mechanische Einwirkung —, oder zwei Körper ihre Qualitäten in Einem Product zu einer dritten verschmelzen — chemische Einwirkung —, während in der organischen Natur eine Art der Reaction sich offenbare, zu der dort kein Seitenstück zu finden sei, die der Reizung, wobei die mannigfaltigsten mechanischen und chemischen Veränderungen stets nur dieselbe Wirkung, der specisischen Energie des Organs entsprechend, Hervorbringen. ^
Kein Wunder, daß Müller in diesen Gedankenwegen sich sicher fühlte, da er darauf nicht bloß mit eigentlichen Fachgenossen, wie Rudolph Wagner, sondern auch mit Meistern im naturwissenschaftlichen Denken, wie Liebig und Wühler, zusammentraf, von denen der letztere doch unlängst durch die Synthese des Harnstoffes gezeigt hatte, daß die chemischen Erzeugnisse des Thierkörpers auch außerhalb des Bereiches der Lebenskraft, im Laboratorium, nachgeahmt werden können. Andererseits fehlte es freilich nicht an Kundgebungen im entgegengesetzten Sinne von Männern wie Berzelius, Schwann, Schleiden, Lotze, Eschricht. ^
Besonders Schwann war es, der durch seine Entdeckung der Zusammensetzung aller Lebewesen aus selbständig, obwohl nach gemeinsamem Princip, sich entwickelnden Gebilden dazu gelangte, die Vorstellung einer den Gesammt- organismus beherrschenden Lebenskraft zu verwerfen. Sogar die Möglichkeit
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