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Deutsche Rundschau.
einer physikalischen Theorie der Zellbildung durch eine Art von Krystallisation imbibitionsfähiger Stoffe, also von Urzeugung, hatte er ins Auge gefaßt, wobei freilich die Gewebe der später von Reichert und Hrn. Virchow unterschiedenen Bindesnbstanzen und die Nerven- und Muskelfaser zu kurz kamen. In dem nachmals von mir veröffentlichten, merkwürdigen Briefe, in welchem Schwann mir auf meine Bitte sein Verhältniß zu Müller eingehend geschildert hatte, wiederholt er nicht bloß sein Verdammungsurtheil über die Lebenskraft, sondern gibt sich sogar, wie früher mündlich gegen mich in Neuß, als echten Cartesianer, indem er nur beim Menschen (seiner Freiheit wegen) ein von der Materie substantiell verschiedenes Princip anerkennt, wodurch sein System sich scharf von dem der Materialisten trenne." So dachte auch Lotze, dem dafür die Zlenie zu Theil ward:
Sorglich gießt Ihr zuerst, auf daß nicht die Neige den Trank Euch
Trübe; zu guter Letzt schüttet Ihr daun sie hinein.
In dem bald nach Schwann's Untersuchungen erschienenen zweiten Bande seiner Physiologie erkannte zwar Müller das selbständige Leben der Zellen an, hielt aber an seiner Idee der Lebenskraft fest, wodurch seine Anschauungen in dem Maße verdunkelt wurden, wie sie an Folgerichtigkeit verloren hatten. Doch war damals, wie es schien, für den Vitalismus der letzte Tag nahe. Zufälliger Weise fand sich in Müller's nächster Nähe eine Gruppe seiner Schüler, welche, besonders physikalisch geschult und mit besserer Einsicht in die Grundprincipien der theoretischen Naturforschung, als sie Müller auf seinem Bildungsgänge erreichbar gewesen war, das Unhaltbare in seinen Glaubenssätzen durchschauten, und deren Einer, bei aller Verehrung für ihn als Lehrer und Forscher, es doch nicht lassen konnte, seinen Vitalismus mit rücksichtsloser Schärfe zu bekämpfen und dessen Blößen aufzudecken." Von gewissen Seiten als physikalische Schule in den Bann gethan, hatten diese jungen Männer, welche übrigens durch ihre eigenen Erfolge als Forscher ihre Berechtigung, hier das Wort zu nehmen, Wohl darthaten, die Genugthuung, daß sich ihnen aus der Ferne in Hrn. Ludwig ein Talent hohen Ranges anschloß, welcher mit Unrecht stets mit ihnen zusammen als Schüler Müller's genannt wird. Ihm kommt im Gegentheil das Verdienst zu, ohne solche Schule und solche Genossenschaft selbständig das Besreiungswerk aus dem Vitalismus unternommen zu haben. Durch die Einführung der autographischen Methode hat er wichtigen Zweigen der Experimental-Physiologie einen streng physikalischen Charakter verliehen.
Der große Unterschied zwischen dem von Müller's Schülern gegen den Vitalismus eröfsneten Feldzug und den früheren dawider gerichteten Angriffen bestand darin, daß sie von ihrem physikalisch-mathematischen Standpunkt aus das der Lehre von der Lebenskraft zu erkennen und dadurch
die ganze Angelegenheit aus eine andere Grundlage zu stellen vermochten. Jener Grundfehler ist die falsche Auffassung des Begriffes Kraft. Die Kraft ist nichts Wirkliches, wie der Vitalismus es sich denkt, nicht ein mit dem materiellen Substrat zusammengesügtes, die Materie, wie sie unseren Sinnen erscheint, ausmachendes Wesen, welches auch von der Materie getrennt selbst-