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Deutsche Rundschau.
Müller gesagt wurde: indem er sich gezwungen sah, seiner Lebenskraft diese Attribute beizulegen, lieferte er unvermerkt den apagogischen Beweis für deren Nichtexistenz."
Die ältere Biologie hatte sich vielfach bemüht, Merkzeichen organischer und anorganischer Bildung, der Lebewesen und der Krhstalle aufzufinden. Ernst Heinrich Weber besonders hatte mit vielem Scharfsinn aus eine Reihe solcher Unterschiede aufmerksam gemacht, wie daß eine und dieselbe chemische Substanz immer dieselbe Krhstallform zeige, aber nicht dieselbe organische Form; daß die äußere Gestalt der Krhstalle variire bei gleicher innerer Textur, die innere Textur der organischen Gebilde bei gleicher äußerer Gestalt u. d. m." Es ist auffallend, daß der wahre und grundlegende Unterschied der beiden Classen von Gebilden noch nicht allgemein und ausdrücklich anerkannt ist. Er besteht darin, daß in den Krhstallen, oder den todten Körpern überhaupt, die Materie in statischem Gleichgewichte, sei es nun stabil, indifferent oder labil, in den Lebewesen in dynamischem Gleichgewichte sich befindet." Dynamisches Gleichgewicht hat Willem Smaasen den Zustand der Elektricität in einer Querscheibe eines von einem stationären Strome durchstoßenen Leiters genannt, wobei die Querscheibe von der einen Seite her so viel Elektricität erhält, wie sie nach der anderen Seite hin abgibt." Dasselbe gilt von der Wärme, ja nach Hrn. Ad. Fick von einem gelösten Körper im einfachsten Falle der Hydro- diffusion." In diesem Sinne kann man aber auch vom dynamischen Gleichgewichte des Wassers in einer Querscheibe eines Flusses oder eines durchströmten Seees reden, welche weder steigen noch fallen, oder der Bevölkerung einer Stadt innerhalb eines Zeitraumes, in welchem ebenso viele Kinder geboren werden und Menschen zuziehen, Wie Menschen sterben und fortziehen. Ist der elektrische oder Wärme- oder Diffusions-Strom nicht stationär, steigt oder fällt das Wasser im Flusse oder See, schwankt die Bevölkerungszahl der Stadt, so ist das dynamische Gleichgewicht gestört, kaufmännisch zu reden: die Bilanz ist nicht Null, sondern positiv oder negativ. Die Materie in den Lebewesen verhält sich nun ebenso, insofern deren Substanz in fortwährendem Wechsel begriffen ist. Sie bestehen in jedem Augenblick aus zum Theil anderer Substanz, im idealen Falle mit der Null gleicher, sonst mit positiver oder negativer Bilanz. Dies ist der allgemeinste Ausdruck des Stoffwechsels, welcher den Vitalisten stets eine so unüberwindliche Schwierigkeit bot, weil, sie den Grund dafür, geschweige seine Notwendigkeit, nicht einzusehen vermochten. Allerdings gehört dazu die Einsicht in das große Princip der Erhaltung der Kraft Wärme und Muskelarbeit, Wimperbewegung und amöboide Bewegungen, nicht zu vergessen elektrische Strömung, sie können im Thiere nicht anders erzeugt werden, als durch Umwandlung von potentieller in kinetische Energie, wesentlich durch Oxydation von Kohlenstoff und Wasserstoff. Dazu sind jene Bedingungen unerläßlich, welche Johannes Müller mit der älteren Physiologie als „integrirende Reize" bezeichnet^ nämlich Nahrungsstoffe, Wasser, Luft, Wärme, für die Pflanzen auch Belichtung." Bei der verschwindenden Wahrscheinlichkeit einer der Null gleichen Bilanz ergibt sich ferner daraus der zeitliche Verlauf, dem die Lebewesen unterliegen, im Gegen-