Ueber Neo-Vitalismus.
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sah zu dem, wenn nicht äußere Kräfte zerstörend eingreifen, in Ewigkeit be- dürfnißlos in sich ruhenden Krhstall. Es ist eine der erhabensten Anschauungen, zu denen die Naturforschung gelangte, daß dem dynamischen Gleichgewicht im einzelnen Lebewesen ein solches in der ganzen organischen Natur entspricht, jener von Priestley bis zu Julius Robert Mayer erkannte Kreislauf der organischen Materie durch Pflanzen und Thiere hindurch, dessen ungeheures Getriebe das Sonnenlicht, Müller könnte sagen, als integrirender Reiz, im Gang erhält.
Aber nicht bloß dynamisches Gleichgewicht ist bezeichnend für die Organismen, es überwiegt auch in ihnen labiles Gleichgewicht. Denn dies ist die einfache Erklärung jener besonderen Form der Reaction, welche Müller ihnen im Gegensatz zu todten Gebilden zuschrieb, der Reizbarkeit. Daß die verschiedensten physikalischen und chemischen Einflüsse in den Lebewesen stets dieselbe Veränderung erzeugen, ihre specifische Energie zum Vorschein bringen, beruht sichtlich auf nichts Anderem, als daraus, daß darin, zur Thätigkeit bereit, schwach gehemmte Mechanismen sich befinden, welche bei jeder Art sie auszulösen, d. h. die Hemmung zu entfernen, in gleicher Weise thätig werden. Nichts ist leichter, als mit anorganischen Hülfsmitteln Entsprechendes zu verwirklichen. Eine Repetiruhr kann so eingerichtet werden, daß sie wie ein Muskel durch Zug oder Druck, durch Wärme oder Kälte, durch Feuchtigkeit oder Trockniß, durch Elektricität oder Chemismus zum Schlagen gebracht wird. Wie der Muskel reagirt sie aus die Reizung stets mit ihrer specifischen Energie, dem Stundenschlage.
Aus alledem geht hervor, daß in der ihm von unserem hohen Meister ertheilten Gestalt der Vitalismus aufzugeben ist. Vergeblich riefe man zu seiner Stütze die althergebrachten Argumente an, wie die Unbegreiflichkeit, die Wunderbarkeit, die Unnachahmlichkeit der organischen Natur. Unbegreiflich ist auch die anorganische Natur, da weder Materie noch Kraft, noch erste Bewegung begreiflich sind, und insbesondere die scheinbar einfachste der Kräfte, die Schwerkraft, bisher allen Versuchen zu ihrer Construction widerstand. In dem Augenblick, wo durch Heinrich Hertz' unsterbliche That die Fernwirkungen elektrischer Ströme auf Aetherwellen zurückgeführt find, wäre es Wohl verfrüht, meines Bruders mathematischen Beweis,^ wonach die Schwerkraft durch Aetherstöße nicht erklärbar sei, hier schon für das letzte Wort gelten zu lassen. Was dann die Wunderbarkeit der organischen Natur betrifft, so fragt zwar der tiefsinnige Hafis: Sind nicht, sage, Suleima's holde Gebärden wunderbar? Doch besinnt er sich alsbald, und ihm dünket am Ende Alles auf Erden wunderbar. Und sind denn nicht der gestirnte Himmel, Sonne und Mond auch wunderbar? Endlich die Forderung, Erzeugnisse der organischen Natur nachzumachen, beruht auf einem vollkommenen Mißverständnis Mit der Pincette die dazu nöthigen Molekeln Stück für Stück aus ihren Schachteln unter der Lupe hervorholend und aneinandersügend können wir allerdings kein Baumblatt machen, aber auch keinen Krystall. Allein werden sie so von der Natur gemacht? So, wie die Natur sie macht, können wir sie auch entstehen lassen. Wir müssen dazu nur die Bedingungen ihrer Entstehung kennen