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Deutsche Rundschau.
und im Stande sein, diese zu verwirklichen, um alsbald den Krhstall aus seiner Mutterlauge, Pflanze und Thier aus Samen und befruchtetem Ei hervorgehen zu sehen. Und so ist es auch mit der vielumstrittenen Urzeugung, welche hier immer als letzter Trumps ausgespielt zu werden Pflegt. Wer kann behaupten, daß sie nicht in unseren Laboratorien zu Stande käme, wenn wir über Atmosphäre, Gewässer, Sonnenstrahlung von der urweltlichen Beschaffenheit verfügten?
Freilich, ein ernsteres Bedenken erweckt nun die Zweckmäßigkeit der organischen Natur. Die Zweckmäßigkeit auch der anorganischen, die Zweckwidrigkeiten auch der organischen Natur haben nur geringes Gewicht angesichts der beim ersten Blick sinnfälligen Unmöglichkeit, die Entstehung der organischen Natur mechanisch zu erklären, wie sie schon Panätios und Cicero durch die Ungereimtheit der Annahme versinnlichten, daß durch Ausschütten eines Schriftkastens ein Gedicht zu Stande kommen könnte. Wenigstens war dies der Stand der Dinge bis zu Müller's Tode. Wie Cnvier und wie Louis Agassiz glaubte er daher an die schubweisen Schöpfungen oder Schöpfungsperioden, während er natürlich zugleich die Urzeugung verwarf. Die Onto- eonelm mirainlw versetzte ihn eine Zeit lang in die qualvollste Ungewißheit, da er ganz nahe daran war, in dem Parasitismus von verlarvten herma- Phroditischen Schnecken in einer Synapta einen Fall von Heterogenie zu erblicken, welcher das vormals geglaubte Entstehen von Eingeweidewürmern im Darm der Thiere an beweisender Kraft noch weit übertrofsen hätte.
Da trat Darwin's Origin ok Lpeeies ans Licht und vermaß sich zu halten, Was einst Lamarck zu früh gewagt hatte. Schade, daß Müller deren Aufgang nicht mehr erlebte. Nun schien Alles in Ordnung. Die Gründe gegen die Erzeugung neuer Species durch Kreuzung der alten waren als hinfällig erkannt; durch die Unvollständigkeit des paläontologischen Archives, an der Hand von Lyell's geologischem Actualismus. waren die schubweisen Schöpfungen überflüssig geworden, und die natürliche Zuchtwahl schien in Darwin's sinnreich verführerischer Darstellung vollauf genügend, um die Zweckmäßigkeit der bestehenden Organismen verständlich zu machen, denn das Unzweckmäßige war ja mit wenigen Ausnahmen im Kampf ums Dasein zu Grunde gegangen. So war der Vitalismus aus seiner mächtigsten Verschanzung getrieben und in die Flucht geschlagen. Wohl noch nie hat eine wissenschaftliche Schrift von rein theoretischem Interesse so schnell und in so weitem Umkreise die gesammte gebildete Welt ergriffen und uralte Ueberzeugungen zum Wanken gebracht und entwurzelt. Besonders in England selber und in Deutschland feierte der Darwinismus seine Triumphe, bei den dort so mächtigen kirchlichen Einflüssen ein doppelt hoch anzuschlagender Erfolg. Sogar eine politische Partei sah sich bei uns bemüßigt, von dem ihr gefährlich scheinenden Umschwung Notiz zu nehmen, und ein in diesem Saale gelesener Nachruf an Darwin wurde der Gegenstand gehässiger Beurtheilung, welche bis aus die Rednerbühne des Abgeordnetenhauses ihren Weg fand.
Dies ist im wesentlichen die Geschichte des Vitalismus, wenigstens in Deutschland, während des letzten halben Jahrhunderts bis zu unseren Tagen