Heft 
(1894) 81
Seite
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lieber Neo-Vitalismus.

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gewesen. Aber ich höre die Frage: warum wurde diese Geschichte des Vita­lismus jetzt hier erzählt, da doch die Sache als abgethan zu betrachten Neues dabei kaum zur Sprache zu bringen war? Die Antwort lautet: weil, trotz dem, wie man meinen sollte, endgültigen Sturze des Vitalismus in neuester Zeit diese Lehre wieder austaucht und in gewissen Schichten der biologischen Wissenschaften festen Fuß zu fassen droht. Diesem Neo-Vitalismus, wie er mit Emphase verkündigt wird, bei Zeiten entgegenzutreten, dürfte natürliche Ausgabe, ja Pflicht Derjenigen sein, welchen es bis jetzt als ein Theil ihrer Lebensarbeit angerechnet wurde, zur Niederkämpfung jener Irrlehre beigetragen zu haben. Dazu war es gut, sich letztere erst wieder ins Gedächtniß zu rufen.

Der Neo-Vitalismus, der schon eine ansehnliche Literatur ausweist, geht nicht von den eigentlichen Physiologen aus. Wenn Hr. Heidenhain durch eine lange Reihe der schwierigsten und sorgfältigsten Versuche den Beweis geführt hat, daß die Resorption im Darm und die Lymphbildung in den inter- capillaren Räumen nicht allein durch Transfusion und Diffusion bedingt sein können, sondern daß dabei noch unbekannte physikalische und chemische Wirkungen der Gewebe im Spiele sind, so gab dies nur durch ein gröbliches Mißverständniß zu der Meinung Anlaß, er sei ins vitalistische Lager über­gegangen. ^ Aehnliches war längst von der Harn- und Speichelsecretion durch Hrn. Ludwig nachgewiesen, ohne daß Jemand daran dachte, ihn deshalb des Vitalismus zu verdächtigen, und Hr. Heidenhain hat es denn auch nicht an der energischen Versicherung fehlen lassen, daß nichts ihm ferner liege, als auf der von ihm erreichten Höhe seine Abkunft aus der physikalischen Schule ver­leugnen zu wollen. 2°

Es liegt in der Natur der Dinge, daß die vitalistische Reaction vorzüglich aus morphologischem Gebiet erwuchs. Wie vorher in Erinnerung gebracht wurde, hatte Schwann auf die Selbständigkeit der Zelle seine antivitalistische lleberzeugung gegründet. Seine Anschauung der Zelle als eines imbibitions- sähigen Krystalls war unhaltbar, und sein sogenanntes Zellenschema wich im Lauf der Jahre besonders durch Max Schultze's und Brücke's Bemühungen dem Begriff des Elementarorganismus. Die Zelle, deren unrichtig gewordener Name doch nicht verbannt werden kann, wurde mehr und mehr als mit einem einzelligen Thiere gleichwerthig erkannt, da dann aus dem Fortsall des Schwann'schen Zellenschema's seine Lehre von der selbständigen Natur der Zelle sich gerade mit verdoppelter Kraft wiedergebar. Sie gipfelte in Hrn. Virchow's Cellularpathologie und in seinem der Schwann'schen Urzeugung von Zellen im intercellularen Kytoblastem entgegengesetzten: Omni« eallula a eeUula. Die den ganzen Organismus eines vielzelligen Thieres erfüllende Lebenskraft trat nun zwar in den Hintergrund, dagegen wurden in die ein­zelnen Elementarorganismen Lebenskräfte verlegt, theils um in deren Innerem allerlei Processe anzuregen und zu leiten, wie etwa die von Hrn. Flemming entdeckten Wunder der Phrenokinesie, theils um die Beziehungen der Elementar­organismen zu einander und zu ihrer sonstigen Umgebung zu beherrschen.

Mittlerweile war auch die Entwicklungsgeschichte aus einer bloß form­beschreibenden Disciplin eine experimentelle geworden. Durch verschiedene