Politische Rundschau.
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bildet werden soll. Als die Tongking-Expedition organisirt wurde, regte sich in Frankreich lebhafter Widerspruch, weil die Effectivbestände im Mutterlaade selbst in Mitleidenschaft gezogen wurden. Damals schwebte vielen französischen Patrioten die Besorgniß vor, daß durch kriegerische Verwicklungen im fernen Osten die Schlagfertigkeit der Armee im Hinblick auf Eventualitäten in Europa gefährdet werden könnte. Nachdem inzwischen ein Nachlassen der früheren Spannung in den Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland ersolgt ist, werden auch die ehemaligen Befürchtungen Wohl nicht wieder auftauchen. Da jedoch augenblicklich gerade über die Mängel der Friedensstärke des französischen Landheeres lebhafte Klage geführt wird, darf angenommen werden, daß insbesondere die in Algerien und Tunesien befindlichen Streitkräfte, sowie Marineinfanterie bei der Expedition auf Madagaskar Verwendung finden werden. Jedenfalls wird von Neuem die Forderung der Bildung einer besonderen Colonialarmee geltend gemacht werden, lieber die Stärke des für die madagassische Expedition nothwendigen Corps gehen die Ansichten auseinander. Während ein Delegirter beim obersten Colonialrathe Frankreichs eine Anzahl von 10 000 Mann für hinreichend zur Einnahme von Tananarivo erachtet, bemessen andere Sachverständige diese Ziffer weit höher. Insbesondere geschieht dies von englischer Seite, wobei allerdings in Betracht gezogen werden muß, daß gerade in England das Vorgehen der französischen Regierung gegen Madagaskar nicht eben wohlwollend beurtheilt wird. In der französischen Teputirtenkammer hat der Minister des Auswärtigen, Hanotaux, am 13. November die vom Kriegsminister eingebrachte Creditvorlage für die madagassische Expedition begründet. Hiernach sollen 65 Millionen Francs bewilligt werden und das Expeditionscorps aus 15 000 Mann bestehen. Sehr bemerkens- werth war der Hinweis des Ministers, daß die Actionsfreiheit Frankreichs eine vollständige sei. Hieraus erhellt, daß die französische Regierung die in der englischen Presse hervorgehobenen Einwendungen gegen die Durchführung des Protec- torates aus der Insel Madagaskar in keiner Weise gelten läßt. Nicht minder verdient hervorgehoben zu werden, daß die internationalen politischen Verhältnisse für so friedliche erachtet werden, daß Frankreich keineswegs Bedenken trägt, aus Madagaskar eine militärische Action in großem Stile zu unternehmen.
Gegenüber den abfälligen Urtheilen der englischen Presse darf betont werden, daß das Cabinet Rosebery selbst in jüngster Zeit mit seinen überseeischen Actionen durchaus nicht glücklich gewesen ist. Braucht doch nur an die Schlappe erinnert zu werden, die es auf diplomatischem Gebiete erlitten hat, als es in dem Kriege zwischen Japan und China eine Intervention der europäischen Mächte herbeiznführen versuchte. Mit Fug wurde damals angenommen, daß, falls England in China besondere Interessen zu wahren hätte, für die übrigen Mächte kein Anlaß vorliege, sich einer Regierung dienstfertig zu zeigen, die selbst bei jeder Gelegenheit betont, daß sie im europäischen Concerte keine bindenden Verpflichtungen übernehmen dürfe. Wenn sich aber die Großmächte in diesem früheren Stadium nur dahin einigten, daß die in China lebenden Europäer in wirksamer Weise geschützt werden müßten, und zu diesem Zwecke die in den ostasiatischen Gewässern bereits befindlichen Geschwader verstärkt wurden, so wird dadurch nicht ausgeschlossen, daß nach dem unglücklichen Ausgange des Krieges für China die Japaner, falls sie maßlose Forderungen für den Friedensschluß geltend machen sollten, bei den europäischen Mächten oder einzelnen von ihnen auf Widerstand stoßen. Von chinesischer Seite ist denn auch bereits behufs Herbeiführung eines angemessenen Friedensschlusses die Intervention Europa's angerufen worden. Jedenfalls darf der Hoffnung Ausdruck geliehen werden, daß die koreanische Frage, die den ersten Anlaß zu dem chinesisch-japanischen Conflicte bot, ihre befriedigende Lösung finden wird.
Auch die marokkanische Angelegenheit, bei der nicht bloß Spanien, sondern mittelbar auch Frankreich, England und Italien betheiligt sind, drohte zu ernsteren
Deutsche Rundschau. XXI, 3. 30
