Heft 
(1894) 81
Seite
467
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Literarische Rundschau.

Franz Nissel.

^Nachdruck untersagt.)

Atein Leben. Selbstbiographie, Tagebuchblätter und Briefe von Franz Nissel. Aus dem Nachlaß herausgegeben von seiner Schwester Caroline Nissel. Mit dem Bildniß des Dichters. Stuttgart, Cotta's Nachfolger. 1894.

Als vor sechzehn Jahren Wilhelm Scherer an dieser Stelle über jenen vielberufenen Schiller-Preis sprach ^), der zu gleicher Zeit drei dramatischen Dichtern: Anzengruber, Nissel und Wilbrandt ertheilt wurdeDramatiker sind diesmal gekrönt wurden, nicht Dramen" da wußte er mancherlei von Anzengruber und von Wilbrandt zu erzählen, nur sehr wenig aber von Nissel. Das war jedenfalls merkwürdig, und es ist schon damals Manchem ausgefallen. Nissel konnte dem berühmten Gelehrten unmöglich ganz unbekannt sein; nicht bloß darum, weil Scherer damals selbst im Richtercollegium saß, das über die zu krönenden Dramatiker zu entscheiden hatte, und weil er hier von Julian Schmidt, der sich mit Nachdruck für die Auszeichnung Nissel's eingesetzt hatte, mehr erfahren konnte, als er zu wissen vorgab; sondern auch deswegen, weil Scherer Nissel's engerer Landsmann war und aus seiner Wiener Zeit gewiß wußte, daß dieAgnes von Meran" nicht das einzige und nicht das erste dramatische Werk des Dichters war. Viele Jahre vorher waren schon zwei Stücke Nissel's:Heinrich der Löwe" (1858) undPerseus von Make­donien" (1862) im Burgtheater ausgesührt worden; sie verschwanden zwar nach wenigen Vorstellungen vom Repertoire, und Nissel verschwand mit ihnen von der Bildfläche der Oeffentlichkeit für so lange Zeit, daß sogar sein Name dem gebildeten Publicum fremd wurde. Allein einem Gelehrten wie Scherer konnte er nicht un­bekannt geblieben sein, und wenn dieser sich bei Besprechung der Schiller-Preise nicht näher auf Nissel einließ, so lag darin auch schon eine Art von Kritik. Offenbar konnte Scherer in seiner damaligen Doppelstellung nicht ganz mit feiner vollen Meinung herausrückeu; als Mitglied der Jury konnte er nicht gegen einen der preisgekrönten Dichter sprechen, für ihn zu sprechen fühlte er sich nicht gedrängt. So hals er sich über die schwierige Lage mit einigen nicht unfreundlichen Bemerkungen, nicht über den ganzen Dramatiker, sondern bloß über das einzelne Drama Nissel's hinweg. Die wenigen Zeilen sind aber doch von Werth, und wir bringen sie wieder in Erinnerung. Sie lauten:Das Stück (,Agnes von MeranH ist nach einem vernünftigen Plan in schöner, gebildeter, für meinen Geschmack etwas zu gleich­mäßig gehobener Sprache geschrieben. Es enthält eine Reihe wirksamer Situationen, worunter das Zusammentreffen der beiden Frauen (Agnes und Jngeborg) obenan steht; aber die Personen sind wenig mit bezeichnenden Zügen ausgestattet; nur zwischen den Königinnen schafft die große Verschiedenheit ihrer äußeren Lage einen starken und ergreifenden Kontrast. Alle leiden an einer Redseligkeit und einem Wortreichthum, welcher Einschränkung fordert und auch verträgt."

i) Deutsche Rundschau, 1878, Bd. XVII, S. 484 ff. Wieder abgedruckt in Scherer's Kleinen Schriften Bd. II, S. 170 ff.,Die Schiller-Preise".

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