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Deutsche Rundschau.
Seitdem ist eine Sammlung „ausgewählter dramatischer Werke" von Franz Nistel (Stuttgart 1892) erschienen, die „Perseus von Maccdonien", „Heinrich der Löwe", „Agnes von Meran" und „Ein Nachtlager Corvin's" enthält, und es ist merkwürdig, wie gut Scherer's Kritik der „Agnes" aus alle vier Werke paßt. In allen verräth sich ein edles dichterisches Streben, ein „vernünftiger" Plan. In „Perseus" ist die Komposition am geschlossensten; .Heinrich" hat eine prächtige Exposition, das Stück fällt aber in der zweiten Hälfte ab; das „Nachtlager" ist als eigentliche Charakterkomödie mit ernstem poetischen Hintergründe angelegt. Stark wirksame Scenen und einzelne schön empfundene Gestalten enthält jedes der vier Stücke: „Perseus" die Gestalt des rührenden Demetrius, der mit seiner Liebe zur Römerin Volumnia leidenschaftlich gesteigerte Gegensätze des Nationalhasses überbrücken will. Heinrich der Löwe und Friedrich Barbarossa stehen sich als echt deutsche Männer und Freunde, aber als politische Gegner gegenüber; sie achten und lieben sich, aber jeden zieht die Konsequenz seiner Stellung nach anderer Richtung hin, und es ist dem Dichter gelungen, uns für dieses Männerbild sehr zu erwärmen. In der „Agnes" ist die Verkündigung des Jnterdicts der poetisch bedeutendste Theil, an dem sich zumal Julian Schmidt's Begeisterung entzündete. Im „Nachtlager" ist die Charakteristik Banffh's und seiner schönen Gattin Etelka am besten gelungen. Aber neben den schönen Partien stehen überall recht schwache, theils durch die mangelhafte Technik, theils schon in der ursprünglichen Conception verfehlte Gestalten und Motive. Das Römerpathos der Perseus-Tragödie läßt uns
kühl; der Ausgang des „Heinrich" durch das Dazwischentreten der Gattinnen der
Gegner muthet uns matt an; die Gegenüberstellung von Agnes und Jngeborg ist ein äußerlicher Theaterstreich, der nicht genügend motivirt ist, mit dem schwachen Philipp geht man nicht mit; die Jntrigue im „Nachtlager" läßt uns ohne Spannung: Mißverständnisse in der Dunkelheit der Nacht waren schon zu oft auf der Bühne da. Und der Dichter verschwindet kaum ganz hinter seinen Gestalten; er zeigt sehr selten die Kunst der Naturlaute, seine Figuren reden immer viel und nicht immer das Beste. Wenn man schließlich das ganze Buch übersieht und nach den Umrissen der dichterischen Persönlichkeit sucht, die sich uns darin offenbarte, so hält es schwer, einen individuellen Kern in ihr zu finden. Ein Dramatiker war
Nistel ohne Zweifel, das zeigte sich schon im Aufbau seiner Scenen; aber er war
mehr theatralisch als eigentlich dichterisch: er wußte, was bühnenwirksam ist, aber den Blick in die menschliche Natur gewann er nicht oft; seine Gestaltungskraft war sehr beschränkt, er war weder erfinderisch in „kleinen Zügen" noch in neuen Motiven; in Summa: kein originaler Geist, nur ein gebildetes Talent. Dieses würde, falls der Dichter sich darum bemüht hätte, in einer minder hohen literarischen Gattung, als der des Dramas in Versen, häufiger Erfolge errungen haben, aber — er hat sich eben darum nicht bemüht. Nistel wollte das Große, das Höchste leisten, und nichts Anderes. Einige Literaten hatten ihm einmal (Juni 1867) nach Lectüre des „Perseus" und der „Dido" „offen" gesagt, daß er nach Hebbel und Grillparzer der bedeutendste Dramatiker wäre, der in Oesterreich aufgetaucht und sich entwickelt hätte — daran glaubte Nistel lange Zeit. Auf diesen Glauben hatte er seine ganze Existenz literarisch und materiell ausgebaut, von ihm aus sein Urtheil über sich und die Mitwelt gebildet und mit unbeirrbarer Leidenschaft an ihm so lange festgehalten, bis es zu spät war, umzukehren, einen anderen Beruf, ein neues Leben zu beginnen, bis er mit dem Glauben an sich auch den Glauben an Gott und Welt verlor und gebrochen das Schicksal der Armuth und Verkanntheit über sich ergehen ließ. Er hatte sich selbst, wie kein zweiter Dichter, eine Tragödie bereitet, indem er im Anfang gleich die Schiffe hinter sich verbrannte und mit seinem Genius siegen oder untergehen wollte. Er hatte sein eigenes Leben pathetisch wie nur irgend eine Tragödie angelegt, und als ihm das Schicksal eine Enttäuschung nach der anderen, eine Demüthigung nach der anderen brachte, die schwerste und härteste in der Erkenntniß seiner eigenen Schwäche und der Grenzen seiner eigenen