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Literarische Rundschau.
Solch' ein Kompromiß zwischen Ideal und Wirklichkeit konnte Nissel als echt tragischer Mensch nicht schließen. Als man ihm, der so arm und so viel Sorgen hatte, nahe legte, daß er sich um eine Anstellung in Wien bemühen solle, da schrieb er: „Ich kann keiner Vorstehen, und der Versuch dazu würde mich ins Irrenhaus führen" (26. Juni 1867). Und doch hatte er, wie man aus seinen zahlreichen allgemeinen Betrachtungen entnehmen kann, bei seinem stets regen politischen Interesse, bei seiner nicht geringen allgemeinen Bildung sehr wohl die Begabung zum Publicisten, den er einerseits beneidete, andererseits gering schätzte. Gerade Männer seiner Art, die auf Inspirationen ihres Innern horchen, in Begeisterung rasch auslodern, intuitiven Blick haben, ohne doch vollkommene Dichter sein zu können, sind zur Journalistik im guten Stil und hohen Sinn wie geschaffen. Muthet es nicht wie eine Vorausverkündigung Kaiser Wilhelm's und Bismarck's an, wenn Nissel in einer Betrachtung über deutsche Zustände im Winter 1861 schrieb:
„Nicht in der Krippe armer Hirten liegen dars der deutsche Messias — in den Palästen der Großen, Mächtigen, Reichen muß er das Licht der Welt erblicken — besser noch in einem Königspalaste! Nach auswärts müssen die großen Ideen dringen, die sich verkörpern in einem Manne, der nicht nur Begabung und Willen, der auch die Macht und Gelegenheit besitzt, sie ins Leben zu sichren. Ein großer Fürst, ein großer Staatsmann, ein großer Held muß uns geboren werden. Wir aber sollen nimmer ermüden, unsere Sehnsucht nach ihm zu erwecken, zu nähren, zu offenbaren. Die Sehnsucht eines ganzen Volkes hat zeugende Krast!" ....
Derartige Stimmungen seiner Zeit zu suhlen und auszusprechen, war Nissel sehr begabt, und im Grunde genommen war sein religiöses Bekenntniß auch nichts Anderes als dieses specisisch dichterische Zusammensassen dessen, was seine ganze Zeit dachte. Dadurch aber, daß sich Nissel mit unvollkommener Begabung hartnäckig und einseitig auf die dramatische Thätigkeit warf, ohne jemals bei aller Selbstkritik die Einsicht zu gewinnen, daß man sich in der Form seiner Begabung irren könne und sich auch nachträglich der ihr angemessenen anbequemen müsse: dadurch verdarb er sich sein Leben. Und mit wahrer Leidenschaft erschwerte er sich seinen Stand immer mehr und mehr: vor Allein durch die Heirath einer exaltirten jungen Sängerin, die nach wenig Jahren an der Auszehrung starb und ihn mit drei Kindern vermögenslos hinterließ ....
Doch wollen wir uns aus diese äußerst traurigen privaten Verhältnisse des Dichters nicht näher einlassen und nur noch die äußeren Umrisse seines Lebens ergänzen. Nachdem er unter den schweren Schlägen seines Schicksals allgemach ein demüthiger und ergebener Mann geworden war, leuchtete ihm 1878 plötzlich die Sonne des Glücks durch die Verleihung des Schiller-Preises. Nun war er nach Jahrzehnten langer Dunkelheit berühmt und von höchster kritischer Instanz anerkannt. Seine Freude war so groß, daß er bei seiner ohnehin immer schwankenden Gesundheit sich nicht die Krast zumuthen durste, einem Bankette beizuwohnen, welches die Wiener „Concordia" den drei preisgekrönten Dramatikern gab; er blieb zu Hause. Aber seine Freude sollte nur kurze Zeit dauern. Sie wurde ihm vergällt durch die heftigen Debatten, die sich an seine Auszeichnung in den literarischen Blättern Berlins und Wiens knüpften, vergällt durch die Abgeneigtheit der deutschen Bühnen, die preisgekrönte „Agnes" zu spielen. Sie wurde in Berlin und Wien allerdings ausgesührt, konnte sich aber nicht halten. Damit schien wiederum das alte traurige Loos der Vergessenheit über Nissel hereinzubrechen; wenig konnte es ihn trösten, daß Wilbrandt seine „Zauberin am Stein" 1882 ins Repertoire des Burgtheaters ausnahm, wo sie sich, allen Schwächen zum Trotz, durch das Spiel der großen Tragödin Charlotte Wolter noch heute aus dem Repertoire erhält. Im Jahre 1881 begann Nissel seine Memoiren zu schreiben, und man muß den schönen frommen Satz aus seinen jugendlichen religiösen Bekenntnissen: „Wer an Gott Verzweifelt, sei beweint mit tausend Thränen des Mitleids, denn ihm ist Keiner an Elend gleich!" sich vor Augen halten, um die Tiefe des Schmerzes ermessen zu können,