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Deutsche Rundschau.
an drei Dutzend Male wieder. Dann gaben wir ans, weiter zu zählen. Denn es ist doch vergebliche Liebesmühe. Wir wissen und erfahren, daß Marcella nicht stolz ist, und durch alle an sie verschwendeten Epitheta es niemals werden wird. Oder hätte es jemals ähnlicher Versicherungen bedurft, uns von dem inneren Adel, dem intacten, weiblichen Selbstbewußtsein von Dorothea in George Eliot's „Middle- march", geschweige denn von „Romola" zu überzeugen? Sind die Zeiten endgültig vorüber, die ganze Kunst vieux jeu, wo der Roman vor Allem nach seinem psychologischen Werth gemessen wurde, wo es des Dichters höchster Ehrgeiz war, die Gestalten seiner poetischen Welt um seelischer Probleme willen in Bewegung zu setzen? Und müssen wir uns in Zukunft wirklich darein ergeben, Leitartikel der „Times" und Hansard's „Uartmmentar^ vobate^ zur Garderobe intellektueller Puppen Verschnitten zu finden, wenn uns das unwiderstehliche Bedürfniß erfaßt, aus dem Lärm und Gezänks der Tagespolemik in die einst so anmuthig bewegte Welt zu flüchten, wo der Geist, seines doktrinären Gewandes entledigt, um Schönheit warb, und die Seelen, im Kampfe des Lebens gestählt oder geopfert, Zeugniß gaben von den ewig waltenden Kräften sittlicher Mächte? Oder sollten solche Probleme nicht hoch genug, sollte das Herz nicht mehr unerschöpflich sein, weil es der zeitersparenden Aesthetik unserer transatlantischen Brüder gefällt, ihre Theologie und ihre Gesellschaftslehre 88eonä-bLnä, nach dem Recept von „Robert Elsmere" und des edlen Träumers Edward Hallin zu beziehen, dem weltlichen Beichtvater von Marcella, dem Vertrauten, bei welchem ihr getreuer Ritter, Aldous Raeburn, ebenfalls seinen Gedankenvorrath holt? Um nicht ungerecht zu sein gegen die hochbegabte Frau, die uns hier zum Widerspruch gereizt hat, wollen wir mit dem Bekenntniß schließen, das sie diesem ihrem Liebling, Hallin, auf die sterbenden Lippen legt: „Wir verschwinden — Einer nach dem Andern — im Dunkel. Allein ein Jeder von uns mag seinen Gefährten noch ein Zeichen geben — bevor er geht ... Es gibt eine Lösung, eine einzige, die Güte, der unterworfene Wille. Darin liegt Alles — aller Glaube — alle Religion — alle Hoffnung für Reich und Arm. — Ob wir unseren Weg klar vor uns liegen sehen zum Willen — der unseren Willen begehrt — daran liegt wenig . . . Den Willen selbst, wir erreichen ihn — durch Pflicht und Leid ... er ist die Wurzel, die Quelle. Er trägt uns durchs Leben und stützt uns im Tode. Aber unsere Schwäche, unsere Rathlosigkeit bedürfen der Hülfe . . . der menschlichen, lebendigen Stimme, uns zu stützen und zu trösten. Wir Christen — sind Waisen — ohne Christus. Und auch hier, was thut es, wie wir denken — über ihn — wenn wir nur au ihn denken. In diesem einen Leben liegt alles Geheimniß und alles Wissen verborgen — und unsere Väter haben für uns gewählt." — Unsere Väter? Ist dieser vage Aufschrei zu Ihm, den wir nicht kennen sollen, von dem uns gesagt wird, daß wir nicht wissen, was Er von uns fordert und wohin Er uns ruft, wirklich der Glaube unserer Väter, der sie so viele Jahrhunderte hindurch in Elend, Kampf und Roth getragen, der das ersehnte Ziel ihres geistigen Schaffens und Ringens, ihre Versöhnung im Leben, ihr Trost im Sterben gewesen ist? Und waren etwa unsere Väter wirklich der Ansicht, daß es gleichgültig sei wie wir von Ihm denken, „in dein alles Wissen verborgen liegt?" Wir wollten mit einer Anerkennung schließen und sind erst jetzt völlig zum Bewußtsein gekommen, wie unüberbrückbar der Abgrund ist, der unsere veraltete Aesthetik und unseren alten Glauben von diesen modernen Visionen trennt, die künstlerisch festzuhalten bemüht sind, was sie intellektuell untergraben, und dem Gefühl zurückgewinnen wollen, was die Erkenntniß preisgab.
Lady Blennerhassett.
,,Handschrift und Charakter".
Herr Professor Or. W. Preyer ersucht uns um Aufnahme folgender Berichtigung:
Im Maiheft 1894, S. 273, II, Z. 2 muß es heißen „an Preusker" statt „an Lavater".