Grete Blinde.
Nach einer altmärkischen (Lhronik.
Von
Lheodor Fontane.
— Berlin. —
l. Das Hänfling-Ne st.
jeißt Tn, Grete, wir haben ein Nest in nnserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin."
„Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?"
„Ich sag' es nicht. Du mußt es rathen."
Diese Worte waren an einem überwachsenen Zaun, der zwei Nachbargärten von einander trennte, gesprochen worden. Die Sprechenden, ein Mädchen und ein Knabe, ließen sich nnr halb erkennen, denn so hoch sie standen, so waren die Himbeerbüsche hüben und drüben doch noch höher und wuchsen ihnen bis über die Brust.
„Bitte, Baltin," fuhr das Mädchen fort, „sag' es mir."
„Rathe."
„Ich kann nicht. Und ich will auch nicht."
„Du könntest schon, wenn Du wolltest. Sieh nur," und dabei wies er mit dem Zeigefinger aus einen kleinen Vogel, der eben über ihre Köpfe hinflog und sich aus eine hohe Hansstaude niedersetzte.
„Sieh," wiederholte Baltin.
„Ein Hänfling?"
„Gerathen."
Der Vogel wiegte sich eine Weile, zwitscherte und flog dann wieder in den Garten zurück, in dem er sein Nest hatte. Die beiden Kinder folgten ihm neugierig mit ihren Augen.
„Denke Dir," sagte Grete, „ich habe noch kein Vogelnest gesehen; blos die zwei Schwalbennester aus unsrem Flur. Und ein Schwalbennest ist eigentlich gar kein Nest."
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