Heft 
(1880) 40
Seite
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Lin Blick von der politischen warte.- 9?

deutschen Volke lautlos vernommenes Todesurtheil gesprochen hatte. Ent­zündlich bis zur flammenden Begeisterung erwies sich der Deutsche für Luther, den Bannerträger der germanischen Freiheitsidee. Seinen Großthaten zu Liebe sah das Volk seiner Landsleute die Früchte seines Fleißes unter den blutigen Kämpfen des großen Krieges in den Staub finken. Das deutsche Reich indessen wurde von einem Object der Geringschätzung zu einem Ziel­punkte allgemeinen Spottes, versank in Nichts, als die Napoleonischen Siegeszüge über Europa hinbrausten, und blieb dann länger als ein halbes Jahrhundert derjenige Gegenstand, auf welchen sich eine sonderbare, beinahe unmännliche Sentimentalität, wie ihrer gerade der Deutsche fähig ist, con- centrirte. Plötzlich aber, fast wie aus einem Hinterhalt, und jedenfalls gegen die Erwartung des Auslandes, vielmehr unter dem Schutze der Ungläubigkeit des Auslandes, zumal Derjenigen, die sich befondern Tiefblick in politischen Dingen zumaßen, erhob sich die deutsche Nation grämlichen Streit bei Seite schiebend, und stellte ihre Einigkeit her. Binnen vier Jahren wurden alle Etappen vom blutigen Hader an bis zum Bündniß auf ewige Zeiten durch­messen. Man lernte sich achten, man gewann gegenseitiges Vertrauen, man fühlte, daß der Eine für den Andern neben platonischer Liebe auch Opfermuth besitze. Als der Nationalfeind drohte, trat man ihm verbündet entgegen, und nachdem er geschlagen worden, war man einig. Was Jahrhunderte lang als unvereinbar mit dem deutschen Volkscharakter geschienen, was seit Menschenaltern unter dem Einflüsse moderner politischer Lehren ersehnt, aber für ein nie erreichbares Ziel gehalten worden war, wurde plötzlich vollendet, unter den Augen des miß­trauischen, mißgünstigen, ja zum Theil hassenden Europas, in einer Zeit, wo Dank den neu erfundenen Verkehrsmitteln die Völker einander in fast erschreckender Weise nahe gerückt sind, wo ungezählte Streitkräfte binnen wenigen Tagen an die Grenzen deutschen Landes hätten geführt werden können. Nichts dergleichen geschah. Das staatsmännische Genie Desjenigen, welcher die deutschen Interessen meisterhaft zu lenken, die Gegner magisch zu bannen verstand, wußte auch die Feinde der deutschen Einigung von Deutschlands Grenzen fern zu halten. Die deutsche Einigung vollzog sich, ohne daß von irgend einer Seite nur der Versuch gemacht worden wäre, sie zu hindern. Das Verdienst an dem politischen Theil dieser beispiellosen Erhebung gebührt unbestritten Bismarck. Er hat zu schassen verstanden, was die Gebildeten der Nation seit Menschenaltern ersehnten. Der Mann, den sich Tausende deutscher Jünglinge in ihren Träumen ausmalten, dessen Erscheinen der erkorene Festredner politischer Gelage in Deutschland mit strahlenden Augen und unter dem Sturmesbrausen allgemeiner Begeisterung prophezeite, er lebt und waltet in Deutschland. Ganze Lieder- und Sagen­kreise sind durch ihn abgethan. Es findet kein wehmüthiges Echo mehr in sentimentalen Turnerherzen, wenn der Sängerchor an das meerumschlungene Schleswig-Holstein mahnt, und die geheimnißvolle Wohnstätte des Kaisers Rothbart im Kyffhänser ist ein verlorener Posten geworden.

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