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Nene ni us der Jüngere.
Wer Geschichte studirt, den ergreift zuweilen die erklärliche Sehnsucht, den großen Männern der Vergangenheit durch Aufsuchung des Schauplatzes ihrer Thaten oder sonstwie näher zu treten. Die Enkel unserer Tage werden mit Scheu zu ihren Großvätern aufblicken, wenn diese berichten, daß sie mit eigenen Augen die großen Wiederhersteller des Reiches selbst gesehen und gekannt haben. Gar Mancher schaut dann wohl mit Neid auf eine solche Zeit zurück. Wie mag — sagt er sich — das Herz der Großväter von Stolz emporgetragen gewesen sein, als der preußische Gesandte auf Bismarcks Rath und des Königs Befehl den alten deutschen Bund für ausgelöst erklärte, oder nach dem Schlachttage von Sedan, oder nach jener Stunde,
wo der König von Preußen unter Waffengeklirr im Versailler Schloß die deutsche Kaiserkrone auf sein greises Haupt setzte! Wie mag die Brust den Männern des Parlamentes sich höher gehoben haben, vor welchem der deutsche Reichskanzler mit dem Frankfurter Friedensvertrage erschien, um den Vertretern der Nation darzulegen, daß er die Siege des deutschen Schwertes im Friedensschlüsse auszubeuten verstanden! Stolzer erhobenen Hauptes schritt Wohl der Bürger von Berlin einher, als in seinen Mauern der Congreß der europäischen Mächte tagte, unter Bismarcks Vorsitz, vor dem Alle sich beugten, in der Hauptstadt desselben Preußens, dessen Gesandten ein 20 Jahre früher in Paris versammelter Congreß den Eintritt zu verwehren gewagt hatte.
Gewiß haben viele deutsche Landsleute an dem einen oder andern dieser Dinge ihre Freude gehabt; wer aber künftig etwa schließen wird, daß die Zeitgenossen Bismarcks von Jubel übergeflossen seien, um dieses großen Staatsmannes willen, der ist gar gewaltig auf dem Irrwege. Ein grämlicher Zug erfüllt die Politik unserer Tage. Aerger und Verbissenheit sind die Merkmale der politischen Debatte. „Er wird alt, er wird unerträglich, er verliert, wie Friedrich der Große in späten Lebensjahren, die Fähigkeit, Widerspruch zu ertragen — genug seiner Thaten, wir danken ihm für Alles, was geschehen, aber er lasse uns nun in Frieden walten — wir werden künftig einmal ohne ihn fertig werden müssen, und wollen uns bei Zeiten daran gewöhnen — er ist nur ein Diplomat, und versteht nichts Anderes, er behandelt die Volksvertreter wie die Gesandten fremder Mächte, die er überreden will, und unser Land, wie ein erobertes Gebiet — er ist, in der inneren Verwaltung ein bloßer Empiriker, und tritt mit Füßen, was die Wissenschaft als klares Gesetz erkannt hat", — solche und ähnliche Vorwürfe hört man täglich aller Orten. Und was die Hauptsache ist: er beugt seinen Nacken nicht vor der Weisheit des Parlaments. Freilich sucht er sich glimpflich mit ihm abzufinden. Seit der Indemnität nach 1866 hat er niemals mehr gegen den Willen eines Parlaments gehandelt; er ist sogar im Stande, ein Füllhorn von Liebenswürdigkeiten auszuschütten, wenn es seinen Zwecken zu dienen scheint. Oh, dann versteht er mit vollendeter Verbindlichkeit selbst den widerhaarigsten Abgeordneten zn fesseln, der auf