Issue 
(1880) 40
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Das Rosenkreuz,

ein Sinnbild des Shristenthums im Uebergange zur Humanitätsreligion.

Von

Kudolf Seudel.

Leipzig.

llbekannt und vielbeklagt ist im Protestantismus der Mangel künstlerischer Schöpferkraft in der Versinnlichung seiner Gedanken durch bildnerischen Schmuck, durch architektonische Formen, durch symbolische Zeichen. Der Protestantismus, der seinen Ausgang von den innersten Tiefen des religiösen Seelenlebens nahm, begünstigte von Haus aus nur Poesie, Musik und Gesang, die Künste des hörenden Sinns, welche geeigneter sind als die dem Auge dienenden, das Innerste des Gemüths abzubilden.

Ich kenne nur eine einzige bildnerische Neuschöpfung, die wir direct dem protestantischen Religionsleben verdanken. Anspruchslos, unansehnlich, ganz gelegentlich entstanden und auch heute noch in gar spärlichem kirchlichen Gebrauch, obwohl sie gleichen Alters ist mit der Reformation selbst, ist auch sie kein Zeugniß gegen das soeben Ausgesprochene. Aber sie ist es, an welche sich uns im Folgenden Betrachtungen anknüpfen sollen, die unter Anderem auch die Thore der Kunst dem Protestantismus weit austhnn, indem sie zeigen, daß die protestantische Auffassung des Christenthnms alles edel Menschliche in ihrem Schooße trägt und an's Licht zu fördern bestimmt ist.

Kein Geringerer als Luther selbst ist der Erfinder, und zugleich der erste und tiefste Ausleger des kleinen Bildwerkes, von dem ich spreche, und an dessen Geschichte sich in überraschender Weise die Geschichte des Entwickelungs- ganges des Protestantismus in dem bezeichnten Sinne, als eine Geschichte der Entwickelung des Christenthums zur Humanitätsreligion, verfolgen läßt.

Als das allgemeine Symbol des Christenthums kennen wir das Kreuz. Es erhebt sich auf den Thürmen unserer Kirchen, hinauf zum Himmel weisend,