Rudolf Seidel in Leipzig.
seine Formen zeichnen den Grundriß unserer Dome auf den mütterlichen Boden der Erde, wie das ganze Erdenleben des Christen ans solchem Grundrisse sich aufbauen soll; es richtet als Malzeichen christlicher Grabstätten den Blick in das Jenseits, und begleitet hundertfältig als Schmuck und Zier selbst die Stunden rauschender Lebensfreuden im Diesseits. Und doch, wer die Entstehung und den wahren Sinn dieses Zeichens ernst und streng immer bedächte, wer nicht ans dem Herzen und Geiste Dessen heraus, den es Verkündigt, vieles Linde und Versöhnende hineintrüge, sollte es dem nicht entweder entweiht scheinen inmitten irdischer Lust und Alltagssorge, oder ihm leid werden und verhaßt als starrer, trüber Mahner an Tod und Pein? So hat unser größter Dichter, der dem wohlverstandenen Christenthum näher stand als Viele meinen, und dessen schöne und tiefsinnige Verwendung des Kreuzeszeichens uns bald beschäftigen wird, sich doch zu einer starken Antipathie gegen das nackte Kreuz bekannt und sieht es ungern am Halse Suleika's.
Das Kreuz ist in der That an sich selbst kein volles, allumfassendes Sinnbild des christlichen Grundgedankens. Wie es nicht das Leben, sondern den Tod des Heilandes, zwar den heilverkündenden Tod, aber nicht das Heil selbst zum Ausdrucke bringt, so ist es auch für die gläubige Aneignung unmittelbar nur das Sinnbild der Abtödtung des „alten Adam", der „Kreuzigung des Fleisches", der Erhebung über Natur und Welt, aber nicht das Sinnbild eines neuen Lebens, nicht das Sinnbild der „Wiedergeburt", die jenem Tode folgen soll. Von jenem Urworte des Christenthums: „Wer sein Leben löstet, der wird es finden" — spricht aus dem Kreuze nur die erste Hälfte zu uns, die zuni Opfer mahnt, nicht die zweite, die uns Seliges verheißt. Darum dürfen wir das Kreuz, in solcher strengen Jsolirung und Fernhaltung von jedem fremden, hinein getragenen Inhalte, wohl das specifische Symbol des mittelalterlichen Christenthums nennen, desjenigen Christenthums, dem sich die protestantische Neugründnng, zu den Urquellen zurücksteigend und den Lebensidealen neuer Zeiten genugthuend, entgegengesetzt hat.
Wir wissen wohl, wie bedenklich es ist, von großen, wechselvollen Geschichtsperioden einen Gesammtcharakter hervorznheben, und doch kann sich Niemand solcher herrschender Eindrücke erwehren, die uns vieles Einzelne und Abweichende übersehen heißen. Wir sehen auf ein Gebirge zurück, das schon Tagereisen hinter uns liegt; wir erkennen nur seine Umrißlinien und eine gleichmäßige Färbung, welche jede innere Gliederung verschlingt: sollen wir diesem Anblicke nicht Worte leihen? So nennen wir das griechische Lebensideal weltfroh, heiter, obgleich die Poesie der Griechen ihren höchsten Gipfel in der Tragödie erreicht, und das Ideal des christlichen Mittelalters — wie auch schon die ersten christlichen Jahrhunderte durch den Gegensatz zum Antiken in diese Bahn gedrängt wurden — nennen wir wellfeindlich, natur- hasscud, unversöhnt jenseitig, trotz Minnedienst und ritterlichem Kraftstolz. Sein Zeichen ist im ansschließenden Sinne das Kreuz. Tie vollendete Heiligkeit ist hier nur durch Büßung, Kasteiung, Selbstgeißelung, nur zwischen